Diplomrede an der Unterseminar Diplomfeier vom 17.01.03

 

Liebe Diplomandinnen, lieber Diplomand, geschätzte Eltern und Angehörige und weitere Gäste unserer Diplomfeier

Der Zug ist angekommen. Die 11 Passagiere, die ihn vor 3 1/2 Jahren bestiegen haben, und zwei unterwegs Zugestiegene, haben alle ihr Ziel wohlbehalten erreicht. Ich bin erleichtert und sehr erfreut und gratuliere euch, liebe Diplomandinnen – die Männer sind im Folgenden stets mitgemeint – recht herzlich zum Erfolg und zum Diplom.

Wir feiern heute drei Ereignisse:

Das gemeinsame Thema ist der Lehrerberuf. Ihm sind die folgenden, sehr persönlichen Gedanken gewidmet.

Lehrer/Lehrerin ist ein sehr schöner und bedeutsamer Beruf. Ihr Diplomandinnen habt euch schon früh, am Ende der Volksschulzeit, für ihn entschieden. Bei mir war das viel später der Fall. In eurem Alter zog mich die wissenschaftliche Neugierde zum Studium der Naturwissenschaften, zur Biochemie. Ich war schon über 30, als ich das Forschungslabor verliess, um Lehrer zu werden, und zwar Mathematiklehrer, weil mich die besondere pädagogische Herausforderung dieses Faches lockte.

Ein Blick auf die heutige Welt zeigt schnell, wie wichtig die Pädagogik ist, und welche gewaltigen Aufgaben sich den erzieherisch tätigen Menschen stellen. Einerseits haben die Naturwissenschaften und die Technik einen schwindelerregenden Stand erreicht; nichts scheint mehr unmöglich. Wir fliegen im Weltall umher, wir kommunizieren miteinander, als ob die Welt ein einziges Wohnzimmer wäre; wir manipulieren das Erbgut, wir automatisieren Arbeitsprozesse; Roboter und andere Maschinen nehmen uns immer mehr mühselige Arbeit ab, usw. Wir hätten die Mittel in der Hand, um es für uns alle auf diesem Planeten komfortabel und friedlich einzurichten.

Leider will sich dieser paradiesische Zustand nicht einstellen. Während wir friedlich hier sitzen, wird ein Krieg mit unerbittlicher Zielstrebigkeit vorbereitet mit unabsehbaren Folgen für die ganze Menschheit; zahllose grössere und kleinere Konflikte schwelen, Völker werden geknechtet, gewaltsam um Land und Lebensgrundlagen gebracht, Menschen werden verschleppt, gefoltert, vergewaltigt, ermordet. Aber auch bei uns, wo keine Kampfhandlungen stattfinden, sind wir weit entfernt von einem friedlichen, gerechten, menschenwürdigen Zustand.

Die soziale Problematik verschärft sich; die weltweit schnell wachsende Kluft zwischen arm und reich wird auch bei uns, in einem der reichsten Länder der Erde, zunehmend spürbar. 4,5 Prozent der Schweizer Haushalte oder 7,5 Prozent der Erwerbstätigen zählt man zu den sogenannten Working Poor, d.h. leben unter der Armutsgrenze, während eine schmale Oberschicht den von der Wirtschaft geschaffenen Reichtum an sich zieht.

Dem Gewinnstreben wird auch unsere natürliche Lebensgrundlage und unsere Gesundheit je länger je mehr geopfert; ein klarer Wille, der drohenden Zerstörung unseres Planeten Einhalt zu gebieten, ist nicht zu erkennen. Und unser Staat, der ja für soziale Gerechtigkeit und den Schutz unserer Umwelt sorgen müsste, wird durch den Entzug der nötigen finanziellen Mittel in die Knie gezwungen. Solche Rahmenbedingungen erzeugen weitere Probleme im gesellschaftlichen Bereich: Vandalismus, Kriminalität, Rassismus und andere Auswüchse verschlimmern sich auf dem Hintergrund der allgemeinen Unzufriedenheit und fehlender hoffnungsvoller Perspektiven.

Der Widerspruch zwischen dem, was möglich wäre, und dem, was ist, verlangt nach Erklärung. Offenbar besitzen wir eine hoch entwickelte wissenschaftliche Intelligenz, die uns ein gewaltiges Potential an schöpferischen, aber auch an zerstörerischen Kräften zur Verfügung stellt. Was uns aber fehlt, ist eine soziale, emotionale Intelligenz. Warum können wir nicht friedlich und gedeihlich zusammen leben und das Potential zu unser aller Vorteil nutzen? Das ist nicht nur ein politisches, sondern ebensosehr ein pädagogisches Problem. Die Wissenschaften können uns helfen, diese Frage zu beantworten; die Antwort liegt aber letztlich in der eigenen Überzeugung, im persönlichen Welt- und Menschenbild. Das Menschenbild des Lehrers ist für sein pädagogisches Wirken entscheidend. Darum möchte ich näher darauf eingehen.

Es gibt unzählige verschiedene Erklärungen und Weltbilder. Die abendländische Tradition sieht den Menschen als sündhaftes, mit schlechten Neigungen behaftetes Wesen, das durch moralische Gesetze und die Androhung von Strafe zum Guten gezwungen werden muss.

Ich teile eher die Ansicht von aufgeklärteren Denkern, die den Menschen als ein von Natur aus gemeinschafts- und lernfähiges Wesen sehen, das in die Gemeinschaft hineinwachsen und seine Fähigkeiten entfalten möchte. Von seiner Natur, seiner biologischen Ausstattung her, hat er alle Voraussetzungen, um dieses Ziel zu erreichen. Er kommt aber äusserst unfertig, hilflos und schwach auf die Welt. Er benötigt die liebevolle Zuwendung seiner Eltern, ein emotional ausgeglichenes, förderndes Gefühlsklima, um sich gedeihlich zu entwickeln und alles zu lernen, was ein Mensch benötigt. Er braucht Anerkennung, Bestätigung, Erfolgserlebnisse, um Vertrauen und Selbstsicherheit zu gewinnen.

Die Erziehung ist eine umfassende, gewaltige Aufgabe, die ich hier nur andeuten kann. Und es ist ein sehr störungsanfälliger Prozess, in dem vieles aus den verschiedensten Gründen schief gehen kann. Es ist unmöglich, hier diese Vorgänge, über die es eine immense Fachliteratur gibt, ausführlich zu erläutern. Ihr, liebe Diplomandinnen, habt darüber im Psychologieunterricht sicher einiges gelernt.

Wichtig für uns Pädagogen ist, dass jeder junge Mensch, mit dem wir es zu tun haben, eine ihn prägende Geschichte hat, das Ergebnis einer Entwicklung ist, die schon im Mutterleib angefangen hat, wo er die Stimmungen und Gefühle der Mutter unbewusst mitbekommen hat. Er hat seinen Charakter, seine Haltungen, Einstellungen, Verhaltensstrategien grösstenteils in der frühen Kindheit erworben, das meiste davon ist ihm nicht bewusst. Seine Fehlhaltungen sind erworben, genau so wie seine Lernprobleme. Und bei jedem Kind oder Jugendlichen ist das wieder anders, jedes hat seine eigene Gangart. Und die zu verstehen, ist für den Lehrer nicht einfach; er kennt ja die frühkindliche Situation seines Schülers nicht.

Eine besondere Schwierigkeit besteht zudem darin, dass wir Lehrer ja unsere eigene Geschichte haben mit unseren Mängeln und Schwächen, unseren blinden Flecken, unseren Vorurteilen und Fehlhaltungen, eingegraben im eigenen Unterbewusstsein. Die eigene persönliche Geschichte aufzuarbeiten ist ein anspruchsvolles, aber lohnendes Unterfangen.

Unsere Aufgabe als Lehrer und Erzieher ist also gewaltig. Meine Andeutungen vermögen vielleicht ein wenig zu erklären, warum die emotionale Intelligenz in unserer Gesellschaft so schwach entwickelt ist.

Kehren wir noch einmal zurück in unser Schulzimmer, liebes S4, wo ich 3 1/2 Jahre lang als euer Klassenlehrer amtete und daneben versucht habe, euch für die Schönheiten der Mathematik zu begeistern. Letztlich werdet ihr mich ja nach euren konkreten Erfahrungen im Alltag beurteilen, und nicht nach den schönen Worten an der Diplomfeier. Wie war das also? Ich habe die besondere Herausforderung erwähnt, die im Problemfach Mathematik liegt. Tatsache ist, dass rund die Hälfte unserer Schüler Schwierigkeiten mit diesem Fach haben; es fällt ihnen schwer, abstrakte Zusammenhänge zu begreifen und sie in konkreten Situationen zu erkennen und anzuwenden. Viele kommen deswegen nicht mehr, oder aber nur knapp, über die Runden und letztere sind dann froh, wenn sie nach der Matura oder dem Diplom sich nie mehr mit Mathe befassen müssen.

Natürlich ist das sehr schade. Erstens ist ein Verständnis vieler Sachverhalte in unserer hoch entwickelten Welt ohne Mathematik erschwert oder gar nicht möglich. Zweitens ist Mathematik eine zentrale Kulturtechnik, eine ganz besondere geistige Welt, die Entwicklung einer ganz besonderen Fähigkeit unseres Hirns, die man allein schon zur Ehre des menschlichen Geistes betreiben sollte. Die Entwicklung dieses Potentials ist für die Gesellschaft notwendig und es kann für den Menschen eine Bereicherung sein.

Also ist es ein grosser Jammer, wenn so viel an mathematischen Fähigkeiten nur so mangelhaft entwickelt wird. Und besonders zu bedauern ist das bei künftigen Lehrkräften der Volksschule, bei euch also, liebe Diplomandinnen, weil eure eigenen Gefühle gegenüber der Mathematik sich in eurem Unterricht dereinst auswirken werden, unbewusst, auch das lehrt die Psychologie.

Die Auseinandersetzung mit den Lernproblemen in der Mathematik war also für mich die grosse Herausforderung, die schwierige Aufgabe, die mich reizte und bis heute forderte. Das Hauptproblem ist der Teufelskreis, in den man leicht gerät: die momentane Schwäche, der Misserfolg lähmt die Motivation, schlecht motiviert lernt man schlechter, und statt aufzuholen, fällt man immer mehr zurück. In einem Fach, in dem eins auf dem anderen aufbaut, führt das leicht zur Katastrophe.

Also ging es darum, sorgfältig Motivation aufzubauen, Erfolgserlebnisse zu ermöglichen, zu fördern und gleichzeitig zu fordern, um vorwärts zu kommen, aber gleichzeitig nicht zu überfordern. Das ist eine sehr subtile Aufgabe, mit der ich mich immer auseinandergesetzt und an der ich immer wieder herumexperimentiert habe. Das Urteil darüber, wieviel wir zusammen erreicht haben, wie weit eure mathematischen Fähigkeiten und vor allem die zugehörige Motivation, die Freude, sich dabei entwickelt haben, muss ich euch überlassen.

Meine Damen und Herren. Ich wollte über den Lehrerberuf sprechen, und habe fast nur vom Menschenbild des Lehrers gesprochen. Es möge dabei bleiben. Für mich ist es der wichtigste Gesichtspunkt, gewissermassen die oberste Leitidee in meinem persönlichen Lehrplan.

Wer über das Menschenbild spricht, vor allem sein eigenes, stösst auf andere Überzeugungen und löst Widerspruch aus. Das ist auch gut so. Es geht ja nicht darum, andere zu belehren und zur eigenen Ansicht zu bekehren. Als Lehrer an einer öffentlichen Schule sind wir weltanschaulich und politisch neutral und achten tolerant die Auffassungen aller in ihr tätigen Menschen. Andererseits spielt unsere eigene Auffassung in jeder zwischenmenschlichen Berührung eine Rolle, ganz besonders in der Erziehung und in der Schule. Der Lehrer kann sein Weltbild, Menschenbild, Schülerbild nicht an der Garderobe deponieren wie seinen Mantel. Darum ist der Gedankenaustausch über diese grundlegenden Fragen unseres Tuns erwünscht und in einem Lehrerkollegium auch wichtig. Ich lade Sie alle ein, mit mir die Diskussion um unser pädagogisches Menschenbild weiter zu führen, speziell meine Kolleginnen und Kollegen und ganz besonders ihr, meine lieben Diplomandinnen, mein lieber Diplomand.

Nun wünsche ich allen hier Anwesenden ein frohes Fest und meiner ehemaligen Schule und meinen ehemaligen Schülerinnen und Schülern eine strahlende Zukunft.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

August Kaiser

 

Anmerkung: Mit der sozialen Menschennatur habe ich mich ausführlicher im Beitrag "Aggressivität als anthropologisches Problem" auseinandergesetzt, erschienen in Arno Plack (Hrsg.), "Der Mythos vom Aggressionstrieb", Paul List Verlag, München, 1973 (in Taschenbuchform erschienen als Ullstein Sachbuch, Ullstein Buch Nr. 34036, Verlag Ullstein, Frankfurt/M, 1980). Das Buch ist in der KSP-Schulbibliothek zu finden.