Wo fahren sie denn?

Ich weiß im Moment nicht, ob ich mich mehr über die Kommunikation seitens der Bahn oder über die anschließenden Berichte in den Medien aufregen soll – eines ist schlimmer als das andere…

Aber von vorn: Gestern komme ich mit einigen Minuten Verspätung mit der S-Bahn am Bahnhof Dreieich-Buchschlag an, wo ich normalerweise genau drei Minuten zum Umsteigen habe. Ein Blick aus dem Fenster der ankommenden S-Bahn zeigt mir, dass die Dreieichbahn nicht mehr dort steht, wo sie laut Fahrplan um 17:26 abgefahren sein sollte. Wissend, dass eine Viertelstunde später eine Regionalbahn aus Frankfurt ankommen würde, mit der ich ebenfalls mein Ziel erreichen würde, schlendere ich zusammen mit vielen anderen Passagieren durch die Unterführung.

Plötzlich beginnen die Vordersten die Treppe zum Gleis hochzulaufen, und man hört auch in der Unterführung, wie ein Zug einfährt. Ich beginne ebenfalls zu laufen, und wundere mich, als ich auf dem Gleis ankomme, denn die Bahn, die jetzt dort steht, kam offensichtlich nicht aus Frankfurt. Aber egal, erst einmal hinein, um noch einen guten Sitzplatz zu ergattern.

Kaum sitze ich, höre ich eine Durchsage ungefähr folgenden Inhalts: „Wegen eines Personenunfalls ist die Strecke leider bis auf weiteres gesperrt. Dieser Zug fährt nur bis Sprendlingen [also eine Station weiter].“ Von dort müssten wir mit dem Bus nach Urberach fahren.

Da es keine direkte Busverbindung zwischen Sprendlingen und Urberach gibt, gehe ich genau wie viele andere Fahrgäste davon aus, dass ein Schienenersatzverkehr eingerichtet wird, um uns ans Ziel zu bringen, bzw. wenigstens soweit, dass wir mit einer anderen Bahn hätten weiterfahren können. Also steigen alle in Sprendlingen brav aus (darunter auch eine Frau mit einer Krücke), steigen wieder eine Treppe hinab, laufen durch die Unterführung, um auf der anderen Seite wieder eine Treppe hochzusteigen.

Die Ersten von uns sind schon beinahe an der nahen Bushaltestelle angekommen, als der Zug auf einmal ein Signal von sich gibt. Die Letzten hören wohl den Zugführer etwas rufen, woraufhin sie umdrehen. Die ganze Menschenmasse folgt, in der Hoffnung, dass die Strecke nun doch frei sei. Doch zu früh gefreut…

Drei Stationen später in Götzenhain (ja, das klingt nicht nur wie der Arsch der Welt) eine erneute Durchsage, dass der Zug dort endet, und wir mit dem Bus weiterfahren sollen. So langsam beschleicht uns der Verdacht, dass es doch keinen Schienenersatzverkehr geben würde. Alle steigen erneut aus, ein Großteil läuft wieder durch eine Unterführung, um zur nächsten Bushaltestelle zu gelangen.

Aber auch dort fährt kein Bus in die Richtung, in die wir wollen. Erschwerend kommt für mich hinzu, dass ich bei der Suche nach einer alternativen Möglichkeit, nach Hause zu kommen, nicht die Tarifzone meiner Jahreskarte verlassen darf. Aber zum Glück hat meine Ehefrau in Kürze Feierabend, und wird auf dem Heimweg von Frankfurt sowieso in der Nähe von Götzenhain vorbeikommen.

So endet die Odyssee damit, dass nach einer weiteren halben Stunde meine Ehefrau außer mir noch einen unserer Nachbarn, der mit im Zug war, und einen weiteren Rödermärker, der schon eine Stunde vor uns dort in Götzenhain gestrandet war, aufpickt, und spät, aber glücklich ans Ziel bringt. Die Bahnstrecke wurde vermutlich kurz vorher wieder freigegeben.

Die Bahn kann selbstverständlich nichts dafür, wenn sich jemand vor einen ihrer Züge wirft. und sie konnte in diesem Fall wohl auch schlecht abschätzen oder in Erfahrung bringen, wie lange die Sperrung dauert. Aber die Fahrgäste ohne eine Information, wie sie denn nun ans Ziel kommen können, einfach auszusetzen, ist ein Unding. Wenn die Bahn schon keinen Schienenersatzverkehr einrichtet, dann sollte sie wenigstens erkunden, auf welche Weise ihre Fahrgäste ans Ziel kommen können, bevor sie diese rausschmeißt. Eine Möglichkeit wäre gewesen, zurückzufahren, weiter mit der S-Bahn nach Frankfurt, und dort in eine anderre S-Bahn, die auf einer anderen Route nach Rödermark fährt. Allerdings hätte die Bahn es organisieren müssen, dass dazu zeitweise Fahrgäste wie ich den Gültigkeitsbereich ihrer Zeitkarten verlassen dürfen.

Dieser Umweg hätte zwar auch sehr lange gedauert, aber das ist immer noch besser, als gar nicht zu wissen, wie man überhaupt wegkommt. Eine weitere Möglichkeit wäre gewesen, die Passagiere einfach im Zug warten zu lassen, bis die Strecke irgendwann wieder freigegeben wird. Wir hatten zwar angenehmes Wetter, hätten uns aber eigentlich das Hin- und Hergerenne durch Unterführungen ersparen, sondern in Ruhe im Zug weiter lesen oder Musik hören können.

Und nun kommt noch die Berichterstattung in den Medien… Offensichtlich schreibt man voneinander ab, denn wie hätte sich sonst so lange die Behauptung von einer S-Bahn oder einer S-Bahnstrecke halten können? Die Dreieichbahn ist eine Regionalbahn, und die Strecke ist nicht elektrifiziert – dort können also gar keine S-Bahnen entlangfahren! Hätte er darauf gewartet, sich dort vor eine S-Bahn werfen zu können, dann stünde er jetzt noch an der Stelle herum…

Die Rechtschreibfehler im Artikel der „Offenbach Post“ sind wohl bis auf „Zwei Tore“ im Titel der Seite beseitigt worden. Doch noch immer hat sich der Mann angeblich vor eine S-Bahn geworfen. Der Schlusssatz

„Die etwa 25 Fahrgäste in der Bahn mussten im Bus weiterfahren.“

hätte ebenfalls ganz anders lauten müssen:

„Die mehr als 100 Fahrgäste aus diesem und nachfolgenden Zügen sollten wegen der Vollsperrung der Strecke mit Bussen weiterfahren, von denen jedoch keiner zum Ziel führte.“

Bei der „Offenbach Post“ heißt es außerdem, dass die Frau erwürgt wurde. Das steht allerdings in eklatantem Widerspruch zu einem anderen Artikel:

„Bluttat in einem Mehrfamilienhaus“

„Blutspuren im Flur“

„Frau mit schweren Schnittverletzungen“

Das stammt – natürlich? – aus bild.de, deren Redakteure wieder einmal mehr wissen (oder vermuten?) als andere Redaktionen. Der Stil ist unverkennbar (man beachte die Pünktchen):

„Sie waren ein Paar…“

Währenddessen ist in der Überschrift allerdings nur von einem „Pärchen-Drama“ die Rede. Da hatte es wohl noch nicht zu einem ausgewachsenen Paar gereicht. Was soll diese Unsitte, ein Ehepaar (in diesem Fall Ende 40) nicht als „Paar“, sondern als „Pärchen“ zu bezeichnen? Klingt wie „Bärchen“, irgendwie niedlich.

Mir ist es ja egal, ob dieser Mann sich vielleicht aus Frust darüber, dass keine S-Bahn kam, selbst erwürgt hat. Aber dass die Bahn ihre Fahrgäste (= Kunden!) sprichwörtlich im Regen stehen lässt, ist eine Unverschämtheit. Als Besitzer einer (teuren) Jahreskarte möchte ich Hilfe erhalten, wie ich nach Hause kommen kann, anstatt einfach nur aus dem von mir ursprünglich gewählten Beförderungsmittel geworfen zu werden.

Muss ich noch erwähnen, dass die Livefahrpläne der Bahn während des Desasters auch keine Hilfe waren? Auf der Suche nach der nächsten Heimfahrtmöglichkeit wurden mir ausschließlich die planmässigen Verbindungen der Dreieichbahn angezeigt, keine Warnung, dass die Strecke zur Zeit gesperrt ist. Jede Autonavigation bietet heutzutage die Möglichkeit, Staus zu umfahren. Aber die Bahn kennt wohl keine Staus, nur Störungen im Betriebsablauf, die man nicht umfahren, sondern nur geduldig ertragen kann.

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