Babys im Sand ertränkt und keinen interessiert’s

MBabyNein, wir haben Sie nicht belogen. Tatsächlich werden Babys im Sand ertränkt. Allerdings sind es keine Hundebabys. Es sind winzige weibliche Wesen, gerade wenige Stunden oder Tage alt. Sie haben kein flauschiges Fell, sondern rosige Haut, keine tolpatschigen Pfoten, sondern 10 kleine zarte Finger…

Und der Welpe? Was der damit zu tun hat, lesen Sie bitte weiter unten.

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Seit über zwei Jahren arbeite ich nun schon gemeinsam mit ein paar freiwilligen Übersetzern für den deutschsprachigen Blog „The 50 Million Missing Campaign“, einer Kampagne gegen den Völkermord an Frauen und Mädchen in Indien. The 50 Million Missing Campaign (www.50millionmissing.info) funktioniert komplett spendenfrei und unterhält – alleine durch die Unterstützung vieler Freiwilliger aus der ganzen Welt – mittlerweile Blogs in mehreren Sprachen. Die aus den Wurzeln der Bevölkerung Indiens entstandene Bewegung wurde 2006 von der Autorin und Frauenrechtlerin Rita Banerji gegründet.

Bei unserer Arbeit begegnen uns immer wieder Menschen, die die Situation der Frauen in Indien schönreden. Oft sind es jene, die schon einmal für einen längeren Aufenthalt in Indien waren und die Umstände dort ganz anders erlebten. Oder solche, die dort Urlaub machten und einfach nur begeistert waren von dem wunderbaren Land.

Man muss sich jedoch vor Augen halten, dass es einen Unterschied gibt, ob man irgendwo lebt oder dort macht. Es ist anders, in einem Land zu leben, in dem Genderzid herrscht, ein Mann oder eine Frau zu sein, als in einem Land, in dem kein Genderzid herrscht. Es macht einen Unterschied, ob man alleine unterwegs ist oder in der Gruppe. Und wenn bei uns sicher keine Frau auf die Straße gehen und Wildfremden erzählen würde, dass in ihrer Familie Gewallt vorherrscht oder dass sie in ihrer Ehe vergewaltigt wird (was in Indien rechtlich nicht als Straftat angesehen wird), so wird das eine indische Frau, die vielleicht Angst haben müsste vor gesellschaftlicher Ächtung oder körperlicher Gewalt, dies erst recht nicht tun.

Und dann sind da noch jene, die in übertrieben wohlwollender Weise jede klitzekleine Veränderung wahrnehmen und sie quasi als „Gegenargument“ zum Ausmaß der Problematik nutzen. Was besagten Veränderungen nicht gerade dienlich ist. Denn wenn die Menschen hören, dass sich ein bißchen was ändert (wie z. B. das verschärfte Vergewaltigungsgesetz, um das sich kaum jemand schert oder die Frauenabteile, die letztlich auch nur eine oberflächliche Veränderung bedeuten), werden sie sich beruhigt auf ihre vier Buchstaben setzen und sich denken: “Siehste, die kriegen das schon hin.” Liebe Leute, das kann doch nicht das sein, was die Indienliebhaber wollen, oder?

Man darf ein Land lieben, auch wenn die Zustände in dem Land nicht in Ordnung sind. Aber gerade dann hat man die Pflicht, sich einzusetzen und nichts schönzureden.

Auch hören wir immer wieder „Bei uns gibt es doch auch Gewalt, bei uns werden auch Frauen vergewaltigt, auch Kinder getötet.“ Ganz sicher ist das so. Und sicher ist jeder Fall, der hier geschieht, nicht weniger tragisch für ein Opfer als für ein indisches Opfer. Dennoch darf man nicht vergessen, dass das Ausmaß hier (wie übrigens auch in China, das gerne als Woanders-ist-es-aber-auch-schlimm-Beispiel genutzt wird) ein völlig anderes ist.

Können wir uns vorstellen, in einem Kaufhaus nicht alleine Aufzug fahren zu können, ohne Angst haben zu müssen, es steigt ein Mann hinzu, der uns womöglich Gewalt antun könnte? Können wir uns die Hilflosigkeit vorstellen, die eine Frau überkommen muss, die in einem überfüllten Bus steht und fremde Hände auf ihrem Körper fühlt? Können wir uns vorstellen, nirgends sicher zu sein, nicht einmal in den eigenen vier Wänden? [Siehe auch unser Artikel „Ein Leben in Angst – Normalität für Frauen in Indien

Werden hier Föten abgetrieben, nur weil sie weiblich sind? Töten hier Familien gemeinsam die Schwiegertochter, Schwägerin oder Ehefrau, weil einer nachträglichen Geldforderung nicht nachgekommen wird oder weil sie eine Tochter erwartet? Ist es hier an der Tagesordnung, Neugeborene im Sand zu ertränken, in verschlossenen Behältnissen zu ersticken oder sie nass dem Wind auszusetzen, damit sie einer Lungenentzündung erliegen? Werden hier frischgebackene Mütter vom eigenen Mann oder der Schwiegerfamilie gemeinsam mit ihren Töchtern lebendig verbrannt? Lässt man hier seine Töchter gezielt verhungern oder ignoriert einfach, wenn sie krank sind? Werden hier Witwen enteignet und verstoßen aus ihrer Dorfgemeinschaft oder ihren eigenen Familien?

Es ist schwer genug, international Aufmerksamkeit zu erwecken für den Völkermord an Frauen und Mädchen in Indien. Indien ist weit weg. Die Menschen fühlen sich kaum betroffen, höchstens mal durch besonders schockierende Einzelfälle. Natürlich ist es einfacher, das Unglaubliche als nicht zu glauben einzustufen, anstatt sich mit dem gesamten Ausmaß dieser Massenmisshandlungen und -tötungen auseinanderzusetzen, und das in einem Land, zu dem Deutschland übrigens regen wirtschaftlichen Kontakt pflegt, ohne auch nur ansatzweise die Kritik zu äußern, die geäußert werden müsste.

Menschenrechtsverletzungen scheinen hier in Deutschland ein politisches und gesellschaftliches Tabuthema zu sein.

Nur wenige Fälle schaffen es ins Licht der Öffentlichkeit, viele nur durch die neuen Medien. Man könnte den Eindruck bekommen, dass Leid, das nicht über unseren Fernsehschirm flimmert, für uns nicht real ist. Warum nur fällt es uns so schwer, für Menschen unsere Stimmen zu erheben, über die in unseren Medien nicht exzessiv berichtet wird?

Seit über einem Jahr gibt es jetzt den deutschen Blog der „The 50 Million Missing Campaign”. Fast 200 Likes hat die deutsche Facebook-Seite. Der französische Blog, der seit nicht einmal der Hälfte der Zeit existiert, hat bereits die doppelte Anzahl. Auch im Familien-/Freundes- und Bekanntenkreis erlebe ich eine merkwürdige Ambivalenz: Wird über Einzelfälle berichtet, ist man entsetzt, schockiert und/oder betroffen. Dennoch bringt es kaum jemand aus meiner Freundesliste über sich, über die Kampagne zu informieren, einfach mal den ein oder anderen Artikel zu teilen oder zu kommentieren. Und auf Facebook kommt zwar mal das ein oder andere „Like“ zu einem Artikel, geteilt wird aber kaum.

Es ist, als hätten die Menschen Angst davor, öffentlich Position zu beziehen oder ihre Meinung zu äußern, wenn es um Menschen geht. Ganz anders ist es, wenn es sich um Tiere handelt. Vergleichen Sie mal Inhalte, Kommentare und Likes von Menschenrechtsseiten und von Tierschutzseiten. Schauen Sie mal, wie selten wirklich wichtige und dringliche Menschenrechtsthemen im Vergleich zu einem Foto von einem niedlichen kleinen Welpen geteilt werden…

Wo bleibt die Solidarität von Mensch zu Mensch, wo die von Frau zu Frau, von Mutter zu Mutter, von Tochter zu Tochter? Sind wir so abgestumpft, so gleichgültig geworden, dass wir alles, was weiter weg ist als unser Sofa vom Fernseher, einfach so an uns vorbeiziehen lassen können?

Netzfrau Andrea Wlazik

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