Erinnerung: Walter L. Blum

Seismografisches Gespür

Ich werde Sigi Feigel nie vergessen, dass er mir während meiner aktiven Zeit als Politiker und auch danach staatsbürgerlichen Unterricht zukommen liess, wie ich ihn nie anderswo erhalten habe. Ich will das an Hand von zwei Begebenheiten schildern, bei denen ich das Privileg hatte, mit ihm zusammenarbeiten zu dürfen. Sigi hatte ein seismografisches Gespür, er ahnte Entwicklungen voraus. Das brachte es mit sich, dass er zwar immer schneller als andere war, was aber nicht überstürztes Handeln bedeutete, sondern das Resultat einer früh erfassten Lage und letztlich wohldurchdachter Entscheide. Das erste Erlebnis: Er rief mich an und sagte, er traue dem Frieden in Sachen Erweiterung des jüdischen Friedhofs am Friesenberg nicht. Er habe keine Indizien, aber sein Gefühl sage ihm, dass etwas im Busch sei. Wie Recht er hatte. Noch bevor die Vorlage des Stadtrates an den Gemeinderat gelangt war, ging das Kesseltreiben aus einer ganz bestimmten Ecke los. Das Gespür von Sigi hat es uns ermöglicht, rechtzeitig eine Abwehrstrategie zu entwickeln, die dann auch in der Volksabstimmung zum Erfolg führte.
Das zweite Erlebnis: Sigi Feigel wusste frühzeitig, dass ein Antirassismus-Gesetz in Bern in Vorbereitung war. Er kannte auch den Fahrplan, wonach das Gesetz frühestens im Herbst 1994 zur Abstimmung gelangen würde. Und wieder sagte sein Bauch, dass dies ein harter Gang werden würde: die Schweizer Bevölkerung musste überzeugt werden. Und wieder sein Anruf. An der Schweizergasse sagte er mir, er wolle die Gründung einer «Parlamentarischen Gruppe gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit» initiieren, die sozusagen als Vorhut das Terrain erkunden sollte. Das war, notabene, im Jahre 1992. Zusammen mit dem damaligen Nationalrat Sigi Widmer sondierte er die Möglichkeit in Bern, und er stiess auf offene Ohren. Und hier habe ich die zweite besondere Fähigkeit von Sigi zu erwähnen. Er gewann in der Regel die richtigen Verbündeten für seine Vorhaben. Er klopfte sie so lange weich, bis sie nicht nur mitmachten, sondern nachhaltig unter dem Eindruck standen, die Idee stamme eigentlich von ihnen selbst. Die dritte Fähigkeit von Sigi war jene, die wir heute als Befähigung zum Aufbau von «Netzwerken» bezeichnen. Unzählige Male chauffierte ich ihn abends in die Kantone hinaus, wo er kantonale Komitees bildete. Einen Abend in Nidwalden werde ich nie vergessen. Wir rechneten mit einem nicht leichten Unterfangen. Eine wackere Gruppe traf sich im Hinterzimmer einer Beiz. Sigi redete genau 10 Minuten, dann war die Sache geritzt. Mehr noch: Der Kanton Nidwalden sagte Ja zum Gesetz, das Ständemehr war Tatsache, was wir am Abstimmungssonntag im September 1994 mit grosser Freude zur Kenntnis nehmen konnten. ? Zu trauern haben wir um eine epochale Persönlichkeit. Eine Persönlichkeit, die viel von sich verlangte und manchmal von anderen etwas zu viel, was es nicht immer einfach machte, mit diesem liebenswerten Mann zusammenzuarbeiten. Er wird fehlen an allen Ecken und Enden.

Walter L. Blum, Generalsekretär der Gesellschaft Schweiz-Israel