Wolfgang Gust

Eigene Buchbesprechungen: Yves Ternon: Der verbrecherische Staat. Völkermord im 20. Jahrhundert. Hamburger Edition, 1996; 344 Seiten.



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Es dauerte nur einen Monat, bis die Ententemächte am 24. Mai 1915 auf den Völkermord an den Armeniern reagierten und den jungtürkischen Verantwortlichen Strafe androhten. Die westliche Note rettete die Armeniern nicht, denn die Türkei war Kriegsgegner und die mit ihnen verbündeten Deutschen und Österreicher reagierten nur lau. Als jungtürkische Mörder dann schließlich vor Gericht standen, artete das Verfahren zur Polit-Komödie aus, weil die Verlieren die Sieger austricksten.

Es brauchte viele Monate, bis die Welt ein halbes Jahrhundert später den Völkermord in Kambodscha registrierte und noch zwei Jahrzehnte saßen die Mörder in den höchsten Gremien der UNO. Kambodscha war eine hermetisch abgeriegelte Nation, die fast alle Ausländer - und damit einigermaßen neutrale Beobachter - des Landes verwiesen hatte.

Als vor drei Jahren in Ruanda Hutu-Nationalisten ihre Tutsi-Landsleute hinschlachteten, waren alle möglichen Beobachter vor Ort. Und doch dauerte es wieder Monate, bis die Welt einigermaßen verläßlich erfuhr, was in Ruanda vor sich ging. Zwar steht diesmal ein Strafgericht an, aber auch dieses droht zur Farce zu werden, denn wichtige Länder - wie Frankreich - weigern sich, die zu ihnen geflüchteten Massenmörder zu verhaften und auszuliefern.

Wie kommt es, daß heute gemeine Mörder weltweit verfolgt, viel gefährlichere Massenmörder aber wenig zu befürchten haben? Wie kommt es, daß die wohl scheußlichste Form von Verbrechen, der Mord an einem ganzen Volk, die Öffentlichkeit weit weniger rührt als eine Kindesentführung oder ein Bombenanschlag?

Einer der Gründe ist, daß ein Völkermord als Straftatbestand im juristischen Sinn erst seit kurzer Zeit erfaßt ist; ein anderer, daß viele Forscher die Einzigartigkeit des Holocausts an den Juden herausstellten, was die Auseinandersetzung mit anderen Völkermorden hemmte. So steckt eine vergleichende Betrachtung von Genoziden erst in den Anfängen. Nur wenige, zumeist amerikanische und israelische Forscher, darunter der US-armenische Genozid-Spezialist Vahakn N. Dadrian, haben sich diesem Gebiet verschrieben. Einer, der erstmals für den deutschen Sprachraum dieses Thema in einem Buch aufbereitet, ist Yves Ternon, Autor des Buches ”Tabu Armenien. Geschichte eines Völkermords."

Ternon referiert in seinem neusten Buch den Stand der Genozid-Forschung. Er beschreibt die Entwicklung des Genozids - das Wort ging erst zum Ende des Zweiten Weltkriegs in den allgemeinen Sprachgebrauch ein - im internationalen Strafrecht, das eine sehr neue Sparte im allgemeinen Strafrecht darstellt. Hatte der Völkermord an den Armeniern seinerzeit nur zu einem nationalen Prozeß gegen einige der Verantwortlichen geführt, in dem die osmanischen Richter einer straffälligen Nation über die Taten ihrer Landsleute urteilen mußten, so brach mit den Nürnberger Prozessen gegen die Verantwortlichen des NS-Regimes eine neue Ära an. Auch wenn es Richter der Sieger waren, die über Besiegten zu Gericht saßen, setzte der Prozeß neue Maßstäbe. Doch im Gefolge des Kalten Krieges mußte sich die Gerechtigkeit erneut dem Primat der Politik beugen, von der sie sich in der Gegenwart wieder zu befreien sucht.

Ternon analysiert nicht nur den juristischen Aspekten die Kriterien, nach denen die Genozidforscher Völkermorde untersuchen. Er arbeitet Charakteristika der Täter heraus und jene der Opfergruppen, beschäftigt sich mit der Sprache der Täter und mit der Psychosoziologie des Genozids. ”Völkermord ist ein Modell menschlichen Verhaltens”, ist eine seiner schockierenden Feststellungen, wobei eine spezielle Sprache die gewollte Entmenschlichung der Opfer vorbereitet, Bürokratie und Technologie die Durchführung des Genozids erst möglich machen. „Völkermord ist eine anormale Tat”, schreibt Ternon, „die von normalen Menschen begangen wird.”

Besonders kommt es Ternon aber darauf an, die jeweilige geschichtliche Situation herauszuarbeiten, in der Genozide stattfinden. Neben der von ihm vermutlich zu hoch angesetzten präventiven Wirkung einer Strafandrohung für Völkermörder ist vor allem die Erkennung der zum Völkermord führenden Umstände von großer Bedeutung, denn nur eine solche Art von Frühwarnsystem verspricht Völkermorde zu verhindern.

Daß die Sensibilisierung der öffentlichen Meinung und damit auch der handelnden Politiker durchaus zu Teilerfolgen führt, zeigt das Beispiel Jugoslawiens. Es gilt nunmehr, zuverlässige Kriterien für die diversen Formen eines Genozids auszuarbeiten und damit die Völkermordabsicht zu erkennen.

Ternon untersucht in Fallbeispielen den Holocaust an den Juden, den Genozid an den Armeniern („das Verbrechen in unserem Jahrhundert, das dem Völkermord an den Juden am nächsten kommt“), die Völkermorde in Kambodscha und Ruanda sowie, mit einem Fragezeichen versehen, die Genozide in der Sowjetunion, wobei er besonders das systematische Aushungern der ukrainischen Bauern 1932 bis 1933 als klaren Völkermord hinstellt, während er den stalinistischen Terror zwar als Massen-, nicht aber als Völkermord qualifiziert. Sodann führt Ternon eine lange Liste genozidärer Ereignisse auf, die den juristisch formulierten Tatbestand eines Völkermords nicht erfüllen. Da ist für die Zukunft noch manche Klärung zu erhoffen.

Jedes Buch, das über Völkermord sachlich aufklärt, ist ein gutes Buch, und Ternons eher journalistisches Buch tut dies in hohem Maße. Um so empörender ist es da, wenn ein Kritiker wie Hans-Walter Schmuhl in der Zeit Ternons Buch zerreißt, weil Ternon keine sozialwissenschaftliche Theorie des Völkermords aufstellt, um die es dem Pariser Chirurgen gar ging. Schon lächerlich ist, wenn Schmuhl Ternons - in der Kürze übrigens hervorragendes - Kapitel über den Holocaust damit abzuqualifizieren glaubt, der Franzosen habe das äußerst umfangreiche Werk der deutschen Historiker Martin Broszat und Hans Mommsen nicht „im Original“ gelesen.

Es macht wenig Sinn, über einige Schwächen des Buches herzufallen, wenn es darum geht, einen völlig neuen Forschungszweig in Deutschland vorzustellen. Was macht es da schon, wenn im Buch etwa der „Warthegau“ zum „Wartheland“ wird und andere Rückübersetzungen fehlerhaft sind, wenn der erste Teil - vermutlich übersetzungsbedingt - sprachlich holperig ist und an einigen Stellen typographische Klarheit fehlt: Ternons Werk ist für den deutschen Sprachraum eine große Bereicherung.

[Erschienen in der "Armenisch-Deutschen Korrespondenz" Nr. 96, Jg. 1997/Heft 2]