Ein Leben für die Mitmenschlichkeit

Ein Leben für die Mitmenschlichkeit

zf. Dr. Annemarie Buchholz-Kaiser wurde 1939 geboren. Sie wuchs in der Gemeinde Dussnang im Thurgau auf. In der Familie Kaiser lebte ein offener Geist, man setzte sich mit den Fragen des gesellschaftlichen Lebens sowie dem Zeitgeschehen intensiv auseinander. Nach Abschluss der Matura studierte Annemarie Kaiser an der Universität Zürich Psychologie, Geschichte und Philosophie. Im Jahre 1977 schloss sie ihre Dissertation über das «Das Gemeinschaftsgefühl – Entstehung und Bedeutung für die menschliche Entwicklung» ab. Während des Studiums und in der Zeit danach arbeitete sie mit dem Tiefenpsychologen Friedrich Liebling zusammen. Nach dessen Tod 1982 führte und entwickelte sie die tiefenpsychologische Arbeit weiter. Äusserst vielfältig interessiert und belesen suchte sie nach Antworten auf drängende politische und gesellschaftliche Fragen. Ihr ganzes Wissen und ihre Menschlichkeit sind in die inhaltliche Ausgestaltung unserer Zeitung eingeflossen und haben den Geist von «Zeit-Fragen» geprägt. Im folgenden veröffentlicht «Zeit-Fragen» den leicht gekürzten Lebenslauf von Annemarie Buchholz-Kaiser, der von den Verwandten und engsten Freunden geschrieben und am Abdankungsgottesdienst vorgetragen wurde.

Zum Leben von Annemarie Buchholz-Kaiser von der Familie und engsten Freunden, gehalten am Abdankungsgottesdienst vom 31. Mai 2014 in Dussnang

Annemarie hat in ihrer Kindheit und Jugendzeit viel Positives erfahren: mit den Eltern über weltanschauliche Fragen zu diskutieren, einen Standpunkt einzunehmen, aber auch für andere Meinungen offen zu sein, Verantwortung zu übernehmen, das Weltgeschehen zu verfolgen, mit Freude auf andere Menschen zuzugehen, gerne zu lernen und tatkräftig zuzupacken. In ihrem späteren Wirken sind all diese Eigenschaften zur vollen Blüte gelangt.

In unermüdlicher Arbeit hat sie sich Lebens- und Erziehungsfragen gewidmet. Auch nach dem Abschluss ihres Studiums eignete sie sich in enger Zusammenarbeit mit dem Psychologen Friedrich Liebling ein immenses psychologisches Wissen und eine zutiefst humane Einstellung zum Leben an und schulte und verfeinerte ihr Einfühlungsvermögen stetig.

Ihr besonderes Augenmerk galt dabei vor allem den Kindern und Jugendlichen. Sie war sehr warmherzig und hatte immer ein offenes Ohr. Sie arbeitete eng mit den Eltern zusammen, um diese in ihrer anspruchsvollen Erziehungsaufgabe zu unterstützen. Sie erkannte zum Beispiel, dass schulischer Misserfolg in den meisten Fällen die Folge einer Entmutigung ist, die behoben werden kann, einerseits durch kontinuierliches Lernen und andererseits durch eine gefühlsmässige Korrektur des Lebens- und Lernstils. Damit verhalf Annemarie unzähligen jungen Menschen, schulisch voranzukommen und später ihren Berufswunsch zu verwirklichen. Dies wirkte sich bei den Heranwachsenden auf alle Lebensbereiche aus. Mit ihrer Hilfe konnten viele Menschen ihre störenden Gefühle in den zwischenmenschlichen Beziehungen erkennen und beheben, was sich auf das ganze Lebensumfeld bis heute positiv auswirkt.

I
n ihrer psychologischen Arbeit hat sie den Einzelnen nie isoliert betrachtet, sondern immer als Mitmensch im gesamten Zeitgeschehen. Was sie sich im Rahmen ihres Studiums erarbeitet und was sich in ihrer praktischen Tätigkeit bestätigt hatte, fand in ihrer Dissertation über die Bedeutung des Gemeinschaftsgefühls bei Alfred Adler, die sie 1977 abschloss, ihren Niederschlag.

Die Einvernehmlichkeit unter den Generationen war ihr immer sehr wichtig, die Wertschätzung der Eltern gegenüber ihren Kindern sowie die Dankbarkeit der Kinder gegenüber ihren Eltern. Ihr psychologisches Wirken war beseelt von diesem Gedanken, und dies während des Zeitgeistes der antiautoritären Erziehung, der immer mehr um sich griff. Lassen wir Annemarie direkt zu Wort kommen:

«Der Schutz der Familie und ihre Aufgaben für die Erziehung und Entwicklung der nächsten Generation wird zu einer Hauptaufgabe unserer Zeit. Denn hier ist der Ort, in dem der Grundstein für die Wahrnehmung und Achtung der Menschenwürde gelegt wird.»

Um den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, über ihre Anliegen zu sprechen, hat Annemarie Gesprächskreise ins Leben gerufen. Hier konnten Kinder und Jugendliche ihre Fragen stellen und haben unter Anleitung von Annemarie Mitgefühl für den anderen entwickelt, Freundschaften geknüpft und vertieft, gelernt, Verantwortung zu übernehmen, in scheinbar ausweglosen Situationen Lösungen zu entwickeln und Konflikte friedlich zu lösen. Sie wollte den jungen Menschen dazu befähigen, sein Leben frei und konstruktiv zu gestalten.

Neben dieser Kinder- und Jugendarbeit war ihr die Arbeit unter anderem mit Eltern und Lehrern ein wichtiges Anliegen. Dabei bekamen die Eltern auf ihre Erziehungsfragen wie zum Beispiel Eifersuchtsprobleme oder Schulversagen fundierte Antworten. Die Lehrer erfuhren, wie sie zum Beispiel den einzelnen Schüler stärken und zum Lernen anleiten sowie eine gute Klassengemeinschaft bilden können.

Mit dem Tod von Friedrich Liebling im Jahre 1982 war klar, dass Annemarie die menschlichen und fachlichen Qualitäten besass, um sein Erbe weiterzuführen. In einer gesellschaftlich angespannten Situation regte sie 1986 an, den Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis (VPM) zu gründen, um die bewährte Tradition der Beratungs- und Lehrtätigkeit zu sichern und weiterzuentwickeln.

Annemaries grösstes Anliegen war immer, seelisches Leid zu verhindern und den Menschen ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen. Sie war der festen Überzeugung, dass die Menschen grundsätzlich dazu fähig sind. Aus dieser zutiefst menschlichen Grundhaltung setzte sie sich spontan und mit aller Kraft dafür ein, dass keiner daran gehindert wird, ein mündiger, selbstdenkender, aktiver Bürger zu werden. Mit dieser Haltung hat sie Gleichgesinnte motiviert, sich zusammenzuschliessen, und sie angeleitet, sorgfältig und wissenschaftlich fundiert die Forschungsliteratur zu studieren und in einen internationalen wissenschaftlichen Austausch zu treten. Daraus ist unter anderem die Aidsaufklärung Schweiz entstanden.

Das Drogenelend Anfang der 90er Jahre auf dem Platzspitz und dem Lettenbahnhof sowie die berechtigten Sorgen von Eltern und Lehrern, die befürchteten, dass ihre Kinder in die Drogen geraten könnten, liessen ihr keine Ruhe. Sie suchte auf der ganzen Welt nach Menschen, die ihre Sorge teilten und führte diese bereits 1990 im ersten Internationalen Drogensymposium in der Schweiz zusammen. Das von ihr, Ärzten und anderen Fachleuten entwickelte Drogenpräventionskonzept erreichte internationale Anerkennung und führte unter anderem zur Aufnahme des VPM als Nichtregierungsorganisation an der Uno. Der US-Kongress zeichnete Annemarie für ihren unermüdlichen Einsatz gegen das Drogenelend mit einer Medaille aus.

Wer kann etwas gegen diesen unermüdlichen Einsatz zum Wohle der Menschen haben? Jetzt ist es zu spät, um Annemarie dafür danke zu sagen.

Während Annemarie mit ihrem Engagement international geachtet und ausgezeichnet wurde, begann in der Schweiz eine beispiellose Kampagne gegen ihre Person und den Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis. Äusserungen wie «der VPM stört in der Drogenfrage» oder die eines Politikers «dann wird eben eine Generation den Drogen geopfert werden» zeigen, welchen Hintergrund diese Kampagne hat.

Auch im Schulwesen stand es nicht zum besten. Der zunehmende Bildungsabbau, die Auflösung der Klassengemeinschaft, die vorangetriebene Vereinzelung der Schüler, neue Lern- und Lehrformen, die nicht mehr das Lernen in den Vordergrund stellten, führten zum Verlust eines soliden Grundlagenwissens wie zum Beispiel in der Rechtschreibung, in der Heimatkunde, in der Geschichte usw. Annemarie erkannte, dass so der Einzelne die Voraussetzungen nicht mehr erhält, eine solide Berufsausbildung zu machen und ein aktiver Mitbürger in unserer direkten Demokratie zu werden. Das wird in der Konsequenz zur Zerstörung der direkten Demokratie führen. Etwas, was Annemarie keine Ruhe liess, und sie veranlasste, ein Grundlagenwerk zur Pädagogik, Standort Schule, herauszugeben, an dem viele Fachleute aus dem Bereich der Pädagogik und Psychologie mitarbeiteten. Lassen wir Annemarie zur Bedeutung der Schule selbst zu Wort kommen:

«Die Schule in der Demokratie kann sich ihrer menschlichen und demokratiebildenden Aufgabe nicht entziehen. Sie ist mehr als nur die Vermittlerin von Kulturtechniken und von Wissen. Sie hat – an die Familie anknüpfend – die geistigen und menschlichen Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen zu Entfaltung zu bringen und jene auf das Leben weiter vorzubereiten.»

Mit dem Aufbau der internationalen Arbeitsgemeinschaft Mut zur Ethik im Jahre 1993, die bis heute wirkt, setzte sie dem bewusst vorangetriebenen Werteabbau eine konstruktive Kraft entgegen. Seit dem Gründungsjahr wird der Kongress Mut zur Ethik jeden Herbst durchgeführt. Hier treffen sich Menschen aus aller Welt, um über die dringendsten Fragen dieser Welt zu sprechen und Lösungen zu entwickeln. Dabei geht es um Themen wie Krieg und Frieden, Familie und Erziehung, menschenwürdige Wirtschaftsformen, direkte Demokratie als Friedensmodell, Grundlagen der Kulturen und Unzähliges mehr. Die Resultate der Diskussion werden jeweils in gemeinsam formulierten Thesen festgehalten. Lassen wir Annemarie selbst zu Wort kommen:

«Was aber hat zu geschehen, werden Psychologie und Pädagogik zu Recht gefragt, damit eine junge Generation heranwächst, der unwürdige zwischenmenschliche Vorgänge im eigenen Umfeld ebenso zum Problem werden wie die Verhältnisse in Ruanda, in Bosnien oder in China? Wie verhilft man Kindern und Jugendlichen im eigenen Einflussbereich zu Mitgefühl, zu Anteilnahme und Verantwortungsbewusstsein, zu einer Gewissensbildung, die nicht beim ersten Sturm im Leben schon zusammenbricht? Wie bereiten wir die junge Generation vor auf das, was nach der Jahrtausendwende auf sie zukommt? Und da schliesst sich die bange Frage an, was alles auf sie zukommen mag und wieviel Standfestigkeit sie benötigen wird. Welches Elternpaar hätte um die letzte Jahrhundertwende erahnt, was dann die Jugend im Ersten und Zweiten Weltkrieg ereilte, was in den Jahren der Diktatur brauner und roter Couleur dann geschah?»

Da die Mainstreammedien nicht bereit waren, diese dringend nötige Diskussion zu führen, entschloss sich Annemarie, mit uns eine Zeitung zu gründen, die seit über 20 Jahren in drei, manchmal vier Sprachen erscheint. Die Zeitung Zeit-Fragen, die genossenschaftlich organisiert und in ehrenamtlicher Tätigkeit herausgeben wird, hat eine immense Ausstrahlung sowohl national als auch international. Annemaries Ethos ist durchdrungen von einem tiefen humanistischen Anliegen, dem Interesse am Einzelnen und dem Gemeinwohl, dem Engagement für die Schweiz und die ganze Welt und war bestimmend für die Zusammenarbeit unter den Mitarbeitern und für den Inhalt der Zeitung. Sie war eine echte Patriotin und hatte auf Grund der Verankerung in ihrer Gemeinde, im Kanton und im Vaterland ein offenes Herz und die Tatkraft, in der Welt zu wirken. Ihr immenses historisches Wissen, ihr politischer Weitblick, ihre menschliche Verbundenheit, ihr würdevoller Umgang mit allen Mitmenschen, ihre demokratische Grundauffassung, ihre Liebe zur Natur, zu den Tieren, die zentrale Bedeutung der Landwirtschaft für die Ernährungssicherheit sowie die Unabhängigkeit des Staates, die kulturelle Vielfalt und vieles mehr sind bis zu ihrem Tod in hohem Masse in die inhaltliche Ausgestaltung der Zeitung eingeflossen.

Im Jahr 2003 zog Annemarie mit ihrem Mann auf den elterlichen Bauernhof. Ihre Liebe zur Natur und zur Heimat führte sie zurück zu ihren familiären Wurzeln. Dort baute sie mit viel Umsicht und grosser Fachkenntnis, die sie sich in vielen landwirtschaftlichen Kursen und der Lektüre vieler Fachbücher aneignete, und in Zusammenarbeit mit der landwirtschaftlichen Schule Arenenberg den bäuerlichen Familienbetrieb neu auf. Bei der Auswahl der Tiere hat sie bewusst vom Aussterben bedrohte Rassen gezüchtet, um einen Beitrag zum Überleben dieser Rassen zu leisten. Die Liebe, die sie den Menschen entgegenbrachte, hatte sie auch für ihre Tiere. So zog sie Jungtiere, deren Mütter bei der Geburt gestorben waren oder die ihre Jungen nicht annehmen wollten, fürsorglich mit dem Schoppen in ihrer Küche auf und ermöglichte ihnen, so schnell wie möglich, die Rückkehr in die Herde. Oft beobachtete Annemarie ihre Tiere ganz genau und zog daraus auch Schlüsse über das Verhalten der Menschen.

Folgendes Zitat stammt aus einem Artikel, der in Zeit-Fragen veröffentlicht wurde:

«Und noch eine Beobachtung, die mich sehr bewegte, ergab sich völlig unverhofft und leider ohne Filmaufnahmegerät: Eine behornte junge Mutter nahm ihr Junges mit 8–10 cm grossen Hörnchen am Kopf vor sich hin und zeigte ihm, wie man Kopf an Kopf ganz fein sich hin und her schieben kann. Nachdem sie es mehrere Male mit dem Jungen geübt hatte, signalisierte sie, dass das für heute genügt. Das Junge ging danach zu seinen Altersgenossen, schaute ruhig um sich und suchte sich eines aus, mit dem es dieses kleine Spiel auch machen konnte. Die andern schauten interessiert zu und wollten es in den kommenden Tagen auch erproben – mit mehr oder weniger Geschick. Die Könnerin aber blieb die Kleine, die es mit ihrer Mutter erlernen durfte: Sie blieb immer ruhig und konzentriert, und ihr ging im Spiel nie etwas daneben. Für mich war das eine der Beobachtungen, aus denen wir für unsere Kinder Schlüsse ziehen müssen.»

Das Zusammenleben und die Zusammenarbeit am Hackenberg war von Annemaries Grundhaltung geprägt. Das Wohl der Tiere und der Menschen stand immer im Vordergrund. Das gemeinsame Arbeiten unter der sorgfältigen Anleitung förderte die Verbundenheit unter uns und gab uns die Gelegenheit, unser Gemeinschaftsgefühl weiter zu stärken. Grosse Freude empfand sie über die eigenen Produkte, die sie mit viel Liebe und Sorgfalt zubereitete, und gerne in Gemeinschaft mit vielen Freunden genoss. Noch einen Tag vor ihrem unerwarteten Tod erlebte sie, wie die Heuernte von ihren eigenen Weiden gemeinsam eingebracht wurde, und hatte grosse Freude daran.

Neben allen diesen grossen Aufgaben, die sie im Laufe ihres Lebens in Angriff genommen und zu Erfolg geführt hat, blieb sie immer eine bescheidene Frau, die sich mit den Menschen in ihrer Umgebung verbunden gefühlt hat und mit diesen im regen Austausch stand. Für Menschen, die sie um Rat fragten, nahm sie sich immer Zeit. Ihr Haus war stets offen und jeder, der an ihre Tür klopfte, war herzlich willkommen.

Das volle und zuversichtliche Herz, das Annemarie in allen Lebenslagen hatte, wird in uns weiterleben. Diese grossartige Arbeit in ihrem Sinn und Geist weiterzuführen, ist für uns eine Herzensangelegenheit.

Wir verlieren in Annemarie eine grossartige, hochgebildete Persönlichkeit und eine warmherzige, bescheidene Frau.

Mögest Du, liebe Annemarie, in Frieden ruhen.

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