Lizenz zum Hüten

In den Ferien das Kind zur Gotte schicken oder es regelmässig von der Tante betreuen lassen: Geht es nach dem Bundesrat, brauchen Tante und Gotte dafür künftig eine Bewilligung. Mit der neuen Verordnung über die Kinderbetreuung legt die Regierung ein rigides Regelwerk vor. Ziel ist der Schutz der Kinder – auf Kosten der Mündigkeit der Eltern.

Drucken
Vollzeiteltern sind eine Rarität. (Bild: Colourbox)

Vollzeiteltern sind eine Rarität. (Bild: Colourbox)

Von Christine Brand

Die Vollzeitmutter ist fast schon eine Rarität, und auch der Vater kann meist nicht einspringen. Die Folge: Immer öfter werden Kinder an einem oder an mehreren Tagen ausserhalb der Familie betreut, sei dies in Tagesstätten, bei Tagesmüttern, von einer Nanny oder von Verwandten. Künftig, so will es der Bundesrat, soll die Betreuung der Kinder ausserhalb der eigenen vier Wände – oder auch zu Hause durch fremde Personen – ganz genau geregelt sein. Zusammen mit den Vorschriften fürs Pflegekinderwesen hat er deshalb auch neue Regeln für die freiwillige Tagesbetreuung der unter 16-Jährigen in eine Verordnung gepackt, die dieser Tage in die Vernehmlassung geschickt wurde (vgl. Kasten).

Die «Verordnung über die ausserfamiliäre Betreuung von Kindern» füllt fast 30 A4-Seiten und ist ein rigides Regelwerk. Eingeführt wird eine Bewilligungspflicht für Tagesmütter, Tagesstätten und Kindermädchen, die mehr als 20 Stunden pro Woche Kinder betreuen. Wer die Kinder in seine Obhut nimmt, muss künftig einen Einführungskurs besuchen und kann – auch unangemeldet – von den kantonalen Behörden überprüft werden. Diese nämlich sollen auf Geheiss des Bundes eine Fachstelle einrichten, die unter anderem kontrolliert, dass Tagesmütter nicht mehr als vier fremde und insgesamt höchstens fünf minderjährige Kinder betreuen sowie einen reinen Strafregisterauszug vorlegen können.

Auch die Leiterin einer Tagesstätte erhält die Bewilligung nur dann, wenn sie, wie auch alle ihrer Mitarbeiterinnen, einen Strafregisterauszug einreicht. Mindestens ein Viertel der Angestellten muss über eine pädagogische Ausbildung verfügen, die Raumgrösse hat der Zahl der Kinder zu entsprechen, und ein Konzept über Verpflegung, Öffnungszeiten und Tarife muss vorliegen. Wer ohne behördliche Bewilligung Kinder hütet, dem droht eine Busse bis zu 5000 Franken.

Gotte braucht Bewilligung

Doch der Bund geht noch einen Schritt weiter: Nicht nur wer sich gegen Entgelt während mindestens 20 Stunden fremder Kinder annimmt, muss über eine Bewilligung verfügen, sondern auch, wer dies gratis tut. Sogar dann, wenn die Person mit dem Kind verwandt ist: Sobald die Tante regelmässig während zwei Tagen und zwei Nächten zur Nichte schaut, braucht sie eine Bewilligung. Ebenso die Gotte, deren Patenkind jeweils die Ferien bei ihr verbringt oder immer wieder mal ein Wochenende. Von der Bewilligungspflicht befreit sind einzig die Grosseltern des Kindes. Doch selbst diese müssen ihre Hütedienste künftig anmelden: für die statistische Erfassung.

Um Fassung ringt angesichts der bundesrätlichen Vorlage FDP-Nationalrat Filippo Leutenegger, der selbst einen Kinderhort gegründet hat: «Damit», sagt er, «werden die Mütter, Eltern und Familien entmündigt.» Wahrscheinlich habe im Bundesrat niemand die Verordnung gelesen, habe keiner bemerkt, was ihm da durchgerutscht sei, mutmasst er. «Das Papier ist eine Superpanne, ich kann mir fast nicht vorstellen, dass das ernst gemeint ist.» Mit dieser Vorlage würde die Schaffung von Betreuungsplätzen massiv erschwert und ebenso verteuert. Bereits heute beträgt beispielsweise in Zürich der maximale Tarif einer subventionierten Tagesstätte 117 Franken pro Tag und Kind. «Solche Regeln», sagt Leutenegger, «erinnern mich ans DDR-System.» Dabei sei doch nicht der Staat der beste Anwalt für das Kind – sondern die Eltern.

«Die neue Verordnung ist ein massiver Eingriff in die Privatsphäre», findet auch Marianne Binder, Sprecherin der CVP. «Ich glaube, wir Eltern sind durchaus selbst in der Lage, bei der Auswahl eines Babysitters den richtigen Entscheid zu treffen – auch ohne die Einmischung des Staates.» Einmal mehr verfalle dieser in eine Art übereifrige Präventions- und Regulierungshysterie. Binder kritisiert auch die «unnötige» Professionalisierung in dem Bereich. Das führe bald soweit, dass zum Windeln wechseln ein Hochschulabschluss verlangt werde.

«Weltfremd»

Nationalrätin Ursula Haller (bdp., Bern) begrüsst derweil, dass es für Tagesstätten und Tagesmütter nationale Regelungen geben soll. «Wenn ich ein Altersheim betreibe, muss ich schliesslich auch Auflagen erfüllen und eine Bewilligung dafür einholen», erklärt sie. Zu weit geht ihr die Verordnung aber, wenn selbst Verwandte eine Bewilligung einholen müssen. «Es ist doch viel sinnvoller, wenn man das Kind der Schwester oder der Schwägerin gibt, statt es in die Krippe zu schicken, die man bezahlen muss und die indirekt die Öffentlichkeit belastet», findet sie. Als Beispiel nennt sie den 14jährigen Berner Oberländer, der in Bern das Gymnasium besucht und unter der Woche bei der Tante in der Stadt übernachtet. Es sei unverhältnismässig und weltfremd, wenn die Tante dafür eine Bewilligung brauche. «Wenn man nun auch in der Kinderbetreuung für alles und jedes ein Brevet machen muss, darf man sich nicht wundern, wenn sich plötzlich niemand mehr dafür zur Verfügung stellt.»

Die Kritik überrascht Nadine Hoch nicht. «Das sind die bekannten, polemischen Stimmen», sagt die geschäftsführende Präsidentin des Verbands Tagesfamilien Schweiz. Die Kritiker, meint sie, verkennten die Realität und operierten zum Teil mit Unwahrheiten. Die Realität sieht heute so aus: 27 000 Kinder werden in Tagesstätten, die im nationalen Verband organisiert sind, betreut, 16 000 Kinder von angemeldeten Tagesmüttern. Beide Zahlen dürften sich verdoppeln, wenn man die Tagesstätten, die nicht dem Verband angehören, und die selbständigen Tagesmütter hinzurechnet. Und die Nachfrage wächst weiter: In der Stadt Zürich wurde das Angebot seit 2001 von 2730 auf 5543 Plätze (Stand 2008) mehr als verdoppelt. Auch der Bund sieht noch immer Nachholbedarf: Mit 190 Millionen Franken Bundesgeld sollen bis 2011 weitere 33 000 Betreuungsplätze geschaffen werden. 24 000 Plätze wurden im Rahmen dieser Finanzierungshilfe bereits realisiert. Zu den offiziellen Plätzen kommen die weitverbreitete Nachbarschaftshilfe, Kindermädchen und vor allem die Verwandten, die Betreuungsaufgaben übernehmen. Das Bundesamt für Statistik geht davon aus, dass heute jedes dritte Kind fremdbetreut wird. Die Angaben basieren auf Hochrechnungen. Genaue Zahlen gibt es nicht.

«Wir wissen exakt, wer wo in welchem Hotel übernachtet, oder wann welche Kuh auf die Alp zieht und wieder runter geht – denn das muss der Bauer melden – aber wir wissen nicht, wo wer welches Kind regelmässig gegen Bezahlung betreut», kritisiert Nadine Hoch. Darum sei die Verordnung nötig, sie bringe viele Verbesserungen. Auch dahingehend, dass nicht mehr jede Gemeinde einfach machen könne, was sie wolle. Heute ist die familienergänzende Kinderbetreuung kantonal oder kommunal organisiert, wobei sechs Kantone über keine eigene Regelung verfügen. In den meisten Kantonen, sagt Nadine Hoch, seien die geplanten Vorschriften des Bundes heute aber bereits umgesetzt, dort ändere sich praktisch nichts.

Strikte Regeln kennt beispielsweise Zürich. «Es ist schon heute unglaublich, was für Auflagen für Krippen und Horte gemacht werden», ärgert sich Filippo Leutenegger. Es werde praktisch alles vorgeschrieben, vom Belegungs- und Putzplan bis zur Placierung der Garderobe und Verwendung von Wegwerf-Tüchlein und Flüssigseife. «Das ist unnötige Bürokratie.»

Thomas Meier, Kommunikationsbeauftragter des städtischen Sozialdepartements, bestätigt, dass die neue Verordnung für Zürich bezüglich Kindertagesstätten und Tagesfamilien praktisch keine Veränderung bringen wird, weil diese bereits heute Auflagen erfüllen müssen und bewilligungspflichtig sind. Die von den Eltern selber organisierte Tagesbetreuung durch Verwandte oder Bekannte muss hingegen weder bewilligt noch gemeldet werden. «Wir finden es unnötig, dass mit der neuen Verordnung in der normalen Tagesbetreuung – insbesondere durch Bekannte und Verwandte – die Bestimmungen derart verschärft werden», sagt Meier.

«Gesundes Augenmass pflegen»

Ähnlich tönt es im Kanton Basel-Stadt, in dem eine Bewilligung benötigt, «wer regelmässig mehr als 16 Stunden pro Woche ein Kind» betreut. «Unsere Erfahrungen zeigen, dass mit diesen Regelungen ausschliesslich Betreuungsverhältnisse angesprochen sind, die entgeltlich erfolgen», sagt Hansjörg Lüking vom Erziehungsdepartement. Für eine unentgeltliche Kinderbetreuung wurde bisher noch gar nie um eine Bewilligung ersucht. Daher empfehlen die Basler in ihrer Stellungnahme dem Bund, «ein gesundes Augenmass» zu pflegen. «Wo Menschen aufgrund ihrer persönlichen Beziehung motiviert sind, sich unentgeltlich für die Betreuung von Kindern einzusetzen, soll der Staat unterstützen, nicht regulieren.»

Das finden auch die Schwestern Brägger, deren Projekt genau auf diese Freiwilligkeit und Unentgeltlichkeit setzt: Weil sich in ihrem Bekanntenkreis immer wieder Eltern über mangelnde Krippenplätze beschwerten, lancierten sie im Internet die Plattform «esgehtauchso.ch». Die Idee: Eltern suchen sich online eine Partnerfamilie, lernen diese kennen und entscheiden sich, ob sie sich gegenseitig bei der Kinderbetreuung unterstützen wollen. Geld fliesst keines, es ist ein eigentlicher Tauschhandel. Letzten Oktober gingen die Schwestern mit ihrer Idee online. «Heute haben wir 1300 aktive Mitglieder», sagt Martina Brägger. Unter Umständen – je nach Betreuungszeit – werden diese Tauschfamilien künftig aber eine Bewilligung für ihren Hütedienst brauchen. «Damit werden Eltern, die Eigeninitiative zeigen, bestraft und ein Stück weit entmündigt», sagt Brägger. Sobald der Staat regle, wer auf das Kind aufpassen dürfe, schiesse er übers Ziel hinaus. Denn Eltern prüften selber sehr genau, wem sie ihre Kinder anvertrauten.

Zum Thema