von Lukas Joos
Die wirtschaftlichen Schäden des Corona-«Lockdowns» sind gross. Doch die Forderung nach einer Kosten-Nutzen-Analyse der verordneten Schutzmassnahmen ist unsinnig und amoralisch zugleich. Ausserdem suggeriert sie einen quasi universellen Kompetenzbereich des Staates.
Wer eine Kosten-Nutzen-Analyse der Anti-Corona-Schutzmassnahmen fordert, ruft zwangsläufig nach einer Monetarisierung von menschlicher Lebenszeit. Der Hauptnutzen der Massnahmen – die Bewahrung menschlicher Lebenszeit vor dem Verlust an das Virus – fällt in Zeiteinheiten an. Für eine Abwägung gegen die verursachten Kosten müsste er dementsprechend zunächst in eine Geldeinheit umgerechnet werden. Doch vom liberalen Standpunkt aus betrachtet ist das erste Problem einer solchen Umrechnung nichts anderes als ihr Produkt, das heisst, ein quantifizierter Preis für Lebenszeit. Dass die Unveräusserlichkeit persönlicher Grundrechte nicht zur Disposition steht, wird kein Liberaler bestreiten. Für Unveräusserliches gilt aber: Kein Preis für keine (Teil-)menge von ihm kann die Grundlage für einen rechtmässigen Trade-off zwischen ihm und etwas anderem sein – egal, wer diesen Trade-off macht. Warum die x-beliebige Berechnung eines Preises für menschliche Lebenszeit mehr praktische Implikationen für die Politik eines liberalen Staates haben sollte als der Schwarzmarktpreis einer illegalen Droge für den gesetzestreuen Bürger, bleibt unter diesen Umständen rätselhaft.
Zur praktischen Nutzlosigkeit monetarisierter Lebenszeit kommt die de-facto-Unmöglichkeit, sie zu errechnen. Wie bestimmt man, wie teuer menschliche Lebenszeit ist? Die Preisbildung durch einen systemischen Prozess – also durch einen Markt für menschliche Lebenszeit – fällt aus offensichtlichen Gründen weg. Dasselbe gilt für die intentionale Bepreisung von Lebenszeit Dritter. Die einzige Variante, deren Hinfälligkeit nicht schon auf den ersten Blick ins Auge sticht, ist die Wertzumessung mittels «Eigeneinschätzung». Wie ein derartiges Verfahren aussehen könnte, skizzierte Christoph Eisenring anfangs April in der NZZ:
«Eine Studie aus dem Jahr 2016 untersuchte für die Schweiz, wie hoch die Zahlungsbereitschaft der Versicherten für medizinische Leistungen am Lebensende ist. Für eine Behandlung, die das Leben um ein Jahr in gutem Zustand verlängert, beträgt diese Zahlungsbereitschaft demnach rund 200 000 Fr. Ein ähnlicher Betrag folgt für die Schweiz aus einer OECD-Analyse von 28 Studien zur Zahlungsbereitschaft für Risikominderungen in diversen Bereichen. Damit kann man versuchen, den Nutzen des derzeitigen Lockdown zu schätzen.»
Die unterschlagene Prämisse, dass aus der behaupteten Zahlungsbereitschaft einer bestimmten Person zum Zeitpunkt a die tatsächliche Zahlungsbereitschaft dieser Person zum Zeitpunkt b folgt, gehört hier zu den mindergrossen Unstimmigkeiten. Das Hauptproblem liegt darin, dass die Frage nach der eigenen Zahlungsbereitschaft ungeeignet ist, um Antworten zu ermitteln, die als Entscheidungsgrundlage für politisches Handeln verwendet werden. Wenn staatliche Akteure die Möglichkeit haben sollen, die Lebenszeit der Person x einem Trade-off zu unterwerfen, dann muss die Person x gefragt werden, welchen Preis der Staat zu zahlen hat, um die Einheit y ihrer Lebenszeit gegen etwas anderes eintauschen zu dürfen. Inwiefern die Frage, so formuliert, tatsächlich zur Errechnung des Preises von Lebenszeit taugt, sei dahingestellt. Entscheidend ist, dass die Antwortwerte ganz bestimmt im Bereich hors de prix lägen.
Noch schwerer als die theoretischen Probleme der Monetarisierung menschlicher Lebenszeit für politische Zwecke wiegen die moralischen. Natürlich stimmt es, dass man «sowieso» nicht alle Infektionstoten vermeiden kann. Nur ist das für sich genommen kein Argument: Es gibt auch Frühgeburten und Unfallopfer, die sich «sowieso» nicht retten lassen. Die Frage lautet nicht, ob wir Allmacht besitzen, sondern, ob politische Entscheidungsträger Trade-offs zwischen quantifizierter Lebenszeit von Drittpersonen und wie auch immer errechneten Kollektivkosten machen dürfen. Dürfen sie es, so müssen sie es, und müssen sie es, so werden alle möglichen auf «werterem» beziehungsweise «unwerterem» Leben basierende Selektionen zur Beamtenpflicht.
Wie unausweichlich die Befürwortung staatlichen Handelns, das auf Trade-offs menschlicher Lebenszeit beruht, in die Gefilde der Euthanasie führt, demonstrierte eine ehemalige grüne Bundesrichterin – nolens volens, selbstverständlich – in einem Tages-Anzeiger-Kommentar zum Thema. Ihr “Ought”, nämlich «die Legitimität, Menschenleben in Franken umzurechnen», leitete sie aus folgendem “Is” ab:
«Soll oder darf ein teures Medikament verabreicht werden, wenn der medizinische Nutzen gering ist? Wann ist ein Spitex-Einsatz noch wirtschaftlich? Gesetz und Rechtsprechung stellen bei medizinischen Behandlungen stets Kosten-Nutzen-Überlegungen an. Das Bundesgericht, dem ich 11 Jahre lang angehörte, behandelt regelmässig solche Fälle. Bei einer 70-jährigen Frau etwa, die an einer seltenen Krankheit litt, verneinte das oberste Gericht den therapeutischen Nutzen eines Medikaments, das jährlich 500’000 Franken kostet. Die Begründung: Es bestehe ein Missverhältnis zwischen Kosten und Nutzen (BGE 136 V 395).»
Ob die Siebzigjährige, der ein lebensrettendes Medikament verweigert wurde, einen vertraglichen Anspruch auf dessen Erhalt gehabt hätte oder nicht, spielte für den Entscheid des Gerichtes offenbar keine wesentliche Rolle. Die Patientin starb, weil mit staatlicher Autorität ausgestattete Drittpersonen zum Schluss kamen, ihre Lebenszeit sei der Allokation bestimmter Mittel nicht wert – oder eben «unwert». Meint eine Grüne, als Death Panel fungierende Gerichte seien Beweis für die Hinnehmbarkeit einer Form von Utilitarismus, gegen die sich die Schweiz das 20. Jahrhundert hindurch erfolgreich gesträubt hat, mag man das zu den Erscheinungen des Alltags zählen. Doch beginnen ausgerechnet jene, die aus guten Gründen für eine Privatisierung des Gesundheitswesens einstehen, eine solche Sicht der Dinge für sich zu entdecken, gerät ins Wanken, was wind- und wetterfest sein sollte.
Niemand bestreitet ernsthaft, dass zwischen der Verhinderung von Corona-Infektionen und der Verursachung von enormen volkswirtschaftlichen Kosten ein Trade-off besteht. Die Existenz eines Trade-off impliziert aber weder die Möglichkeit noch die Zweckmässigkeit, dessen Optimum zu berechnen. Ein sich selbst überlassener Kamin erhöht die Gefahr eines Kohlenmonoxidaustrittes, ein sich selbst überlassener Plattenweg die Gefahr unglücklicher Fehltritte. Es besteht ein Trade-off – aber niemand riete dem Hausbesitzer, die nötigen Unterhaltsarbeiten auf der Basis einer Analyse der relativen Vergiftungs- und Sturzrisiken in Auftrag zu geben. Was dieser vernünftigerweise fällt, sind kategorische Entscheide im Bewusstsein eines Trade-off: zum Beispiel den Entscheid, den vom Kaminfegerverband empfohlen Intervall einzuhalten und den Weg so pflegen zu lassen, dass ihn das gebrechlichste Familienmitglied ohne Schwierigkeiten begehen kann.
Eine Kosten-Nutzen-Analyse der Corona-Schutzmassnahmen ist unmöglich, und politisches Handeln auf ihrer Basis wäre mit liberalen Grundwerten nicht in Einklang zu bringen. Das einzige, was die vielgeäusserte Forderung nach ihr bewirkt, ist die Erzeugung des Anscheins, dass es nichts, aber auch gar nichts gibt, was ausserhalb des staatlichen Machtbereichs liegt. Sind Liberale der Ansicht, der Bundesrat sei sich des Trade-off zwischen Infektionsschutz und volkswirtschaftlichen Verlusten zu wenig bewusst, sollten sie diese Besorgnis entsprechend formuliert in Anschlag bringen. Präzise Sprache ist nicht optional – und zwar ganz besonders für Liberale nicht. Dass sich der hiesige Freisinn in einem Zustand befindet, in dem er vor Bundesgericht bestimmt das eine oder andere Medikament verweigert bekäme, liegt nicht zuletzt daran, dass sich zu viele seiner Vertreter in Ungefährem und Halbausgedachtem ausdrücken.
Bild von Therese Trinko @flickr, publiziert unter CC-Lizenz, many thanks!