von Lukas Joos

Die wirtschaftlichen Schäden des Corona-«Lockdowns» sind gross. Doch die Forderung nach einer Kosten-Nutzen-Analyse der verordneten Schutzmassnahmen ist unsinnig und amoralisch zugleich. Ausserdem suggeriert sie einen quasi universellen Kompetenzbereich des Staates.

Wer eine Kosten-Nutzen-Analyse der Anti-Corona-Schutzmassnahmen fordert, ruft zwangsläufig nach einer Monetarisierung von menschlicher Lebenszeit. Der Hauptnutzen der Massnahmen – die Bewahrung menschlicher Lebenszeit vor dem Verlust an das Virus – fällt in Zeiteinheiten an. Für eine Abwägung gegen die verursachten Kosten müsste er dementsprechend zunächst in eine Geldeinheit umgerechnet werden. Doch vom liberalen Standpunkt aus betrachtet ist das erste Problem einer solchen Umrechnung nichts anderes als ihr Produkt, das heisst, ein quantifizierter Preis für Lebenszeit. Dass die Unveräusserlichkeit persönlicher Grundrechte nicht zur Disposition steht, wird kein Liberaler bestreiten. Für Unveräusserliches gilt aber: Kein Preis für keine (Teil-)menge von ihm kann die Grundlage für einen rechtmässigen Trade-off zwischen ihm und etwas anderem sein – egal, wer diesen Trade-off macht. Warum die x-beliebige Berechnung eines Preises für menschliche Lebenszeit mehr praktische Implikationen für die Politik eines liberalen Staates haben sollte als der Schwarzmarktpreis einer illegalen Droge für den gesetzestreuen Bürger, bleibt unter diesen Umständen rätselhaft.

Zur praktischen Nutzlosigkeit monetarisierter Lebenszeit kommt die de-facto-Unmöglichkeit, sie zu errechnen. Wie bestimmt man, wie teuer menschliche Lebenszeit ist? Die Preisbildung durch einen systemischen Prozess – also durch einen Markt für menschliche Lebenszeit – fällt aus offensichtlichen Gründen weg. Dasselbe gilt für die intentionale Bepreisung von Lebenszeit Dritter. Die einzige Variante, deren Hinfälligkeit nicht schon auf den ersten Blick ins Auge sticht, ist die Wertzumessung mittels «Eigeneinschätzung». Wie ein derartiges Verfahren aussehen könnte, skizzierte Christoph Eisenring anfangs April in der NZZ:

«Eine Studie aus dem Jahr 2016 untersuchte für die Schweiz, wie hoch die Zahlungsbereitschaft der Versicherten für medizinische Leistungen am Lebensende ist. Für eine Behandlung, die das Leben um ein Jahr in gutem Zustand verlängert, beträgt diese Zahlungsbereitschaft demnach rund 200 000 Fr. Ein ähnlicher Betrag folgt für die Schweiz aus einer OECD-Analyse von 28 Studien zur Zahlungsbereitschaft für Risikominderungen in diversen Bereichen. Damit kann man versuchen, den Nutzen des derzeitigen Lockdown zu schätzen.»

Die unterschlagene Prämisse, dass aus der behaupteten Zahlungsbereitschaft einer bestimmten Person zum Zeitpunkt a die tatsächliche Zahlungsbereitschaft dieser Person zum Zeitpunkt b folgt, gehört hier zu den mindergrossen Unstimmigkeiten. Das Hauptproblem liegt darin, dass die Frage nach der eigenen Zahlungsbereitschaft ungeeignet ist, um Antworten zu ermitteln, die als Entscheidungsgrundlage für politisches Handeln verwendet werden. Wenn staatliche Akteure die Möglichkeit haben sollen, die Lebenszeit der Person x einem Trade-off zu unterwerfen, dann muss die Person x gefragt werden, welchen Preis der Staat zu zahlen hat, um die Einheit y ihrer Lebenszeit gegen etwas anderes eintauschen zu dürfen. Inwiefern die Frage, so formuliert, tatsächlich zur Errechnung des Preises von Lebenszeit taugt, sei dahingestellt. Entscheidend ist, dass die Antwortwerte ganz bestimmt im Bereich hors de prix lägen.

Noch schwerer als die theoretischen Probleme der Monetarisierung menschlicher Lebenszeit für politische Zwecke wiegen die moralischen. Natürlich stimmt es, dass man «sowieso» nicht alle Infektionstoten vermeiden kann. Nur ist das für sich genommen kein Argument: Es gibt auch Frühgeburten und Unfallopfer, die sich «sowieso» nicht retten lassen. Die Frage lautet nicht, ob wir Allmacht besitzen, sondern, ob politische Entscheidungsträger Trade-offs zwischen quantifizierter Lebenszeit von Drittpersonen und wie auch immer errechneten Kollektivkosten machen dürfen. Dürfen sie es, so müssen sie es, und müssen sie es, so werden alle möglichen auf «werterem» beziehungsweise «unwerterem» Leben basierende Selektionen zur Beamtenpflicht.
Wie unausweichlich die Befürwortung staatlichen Handelns, das auf Trade-offs menschlicher Lebenszeit beruht, in die Gefilde der Euthanasie führt, demonstrierte eine ehemalige grüne Bundesrichterin – nolens volens, selbstverständlich – in einem Tages-Anzeiger-Kommentar zum Thema. Ihr “Ought”, nämlich «die Legitimität, Menschenleben in Franken umzurechnen», leitete sie aus folgendem “Is” ab:

«Soll oder darf ein teures Medikament verabreicht werden, wenn der medizinische Nutzen gering ist? Wann ist ein Spitex-Einsatz noch wirtschaftlich? Gesetz und Rechtsprechung stellen bei medizinischen Behandlungen stets Kosten-Nutzen-Überlegungen an. Das Bundesgericht, dem ich 11 Jahre lang angehörte, behandelt regelmässig solche Fälle. Bei einer 70-jährigen Frau etwa, die an einer seltenen Krankheit litt, verneinte das oberste Gericht den therapeutischen Nutzen eines Medikaments, das jährlich 500’000 Franken kostet. Die Begründung: Es bestehe ein Missverhältnis zwischen Kosten und Nutzen (BGE 136 V 395).»

Ob die Siebzigjährige, der ein lebensrettendes Medikament verweigert wurde, einen vertraglichen Anspruch auf dessen Erhalt gehabt hätte oder nicht, spielte für den Entscheid des Gerichtes offenbar keine wesentliche Rolle. Die Patientin starb, weil mit staatlicher Autorität ausgestattete Drittpersonen zum Schluss kamen, ihre Lebenszeit sei der Allokation bestimmter Mittel nicht wert – oder eben «unwert». Meint eine Grüne, als Death Panel fungierende Gerichte seien Beweis für die Hinnehmbarkeit einer Form von Utilitarismus, gegen die sich die Schweiz das 20. Jahrhundert hindurch erfolgreich gesträubt hat, mag man das zu den Erscheinungen des Alltags zählen. Doch beginnen ausgerechnet jene, die aus guten Gründen für eine Privatisierung des Gesundheitswesens einstehen, eine solche Sicht der Dinge für sich zu entdecken, gerät ins Wanken, was wind- und wetterfest sein sollte.

Niemand bestreitet ernsthaft, dass zwischen der Verhinderung von Corona-Infektionen und der Verursachung von enormen volkswirtschaftlichen Kosten ein Trade-off besteht. Die Existenz eines Trade-off impliziert aber weder die Möglichkeit noch die Zweckmässigkeit, dessen Optimum zu berechnen. Ein sich selbst überlassener Kamin erhöht die Gefahr eines Kohlenmonoxidaustrittes, ein sich selbst überlassener Plattenweg die Gefahr unglücklicher Fehltritte. Es besteht ein Trade-off – aber niemand riete dem Hausbesitzer, die nötigen Unterhaltsarbeiten auf der Basis einer Analyse der relativen Vergiftungs- und Sturzrisiken in Auftrag zu geben. Was dieser vernünftigerweise fällt, sind kategorische Entscheide im Bewusstsein eines Trade-off: zum Beispiel den Entscheid, den vom Kaminfegerverband empfohlen Intervall einzuhalten und den Weg so pflegen zu lassen, dass ihn das gebrechlichste Familienmitglied ohne Schwierigkeiten begehen kann.

Eine Kosten-Nutzen-Analyse der Corona-Schutzmassnahmen ist unmöglich, und politisches Handeln auf ihrer Basis wäre mit liberalen Grundwerten nicht in Einklang zu bringen. Das einzige, was die vielgeäusserte Forderung nach ihr bewirkt, ist die Erzeugung des Anscheins, dass es nichts, aber auch gar nichts gibt, was ausserhalb des staatlichen Machtbereichs liegt. Sind Liberale der Ansicht, der Bundesrat sei sich des Trade-off zwischen Infektionsschutz und volkswirtschaftlichen Verlusten zu wenig bewusst, sollten sie diese Besorgnis entsprechend formuliert in Anschlag bringen. Präzise Sprache ist nicht optional – und zwar ganz besonders für Liberale nicht. Dass sich der hiesige Freisinn in einem Zustand befindet, in dem er vor Bundesgericht bestimmt das eine oder andere Medikament verweigert bekäme, liegt nicht zuletzt daran, dass sich zu viele seiner Vertreter in Ungefährem und Halbausgedachtem ausdrücken.

Bild von Therese Trinko @flickr, publiziert unter CC-Lizenz, many thanks!

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Ein paar Gedanken zu Vorarlberg und der Schweiz – hundert Jahre nach der Abstimmung über den Beitritt

Was vor hundert Jahren geschah, dass sich vier von fünf Vorarlbergern für einen Beitritt zur Schweiz aussprachen, ist ein erstaunlicher Vorgang. Und eigentlich – ich mache da aus meinem Herz keine Mördergrube – hätte man ihn respektieren müssen, wenn US-Präsident Woodrow Wilsons Gerede vom Selbstbestimmungsrecht der Völker etwas wert gewesen wäre. 

Aber wie so oft in der Politik – ich spreche mit mehr als zwanzig Jahren Erfahrung im Bundeshaus in Bern – wie so oft, gelten Prinzipien nur so lange, wie sie der eigenen Meinung entsprechen. Als mein Sohn im Kindergarten gefragt wurde, wo sein Vater arbeite, sagte er “Im Hundehuus”. Damit hatte er recht, es wird ab und zu gekläfft. 

Es gibt Leute die bedauern, dass sich die Bürger nicht mehr für Politik interessieren. Ich finde es schlimmer, dass sich die Politiker nicht mehr für die Bürger interessieren. 

So kam es also vor 100 Jahren, dass die Siegermächte des Ersten Weltkriegs den Übertritt nicht gut fanden – und in der Schweiz fand ein protestantischer Bundesrat, dass ein zusätzlicher katholischer Kanton das fragile Gleichgewicht zwischen den Konfessionen gefährden könnte. Kurz: ihr wart einfach zu schwarz für uns. 

Doch der Vorgang ist mehr als eine Episode, auf die man bloss lächelnd zurückschauen sollte. Uns verband und verbindet mehr, als man angesichts des breiten Rheines, der uns nationalstaatlich trennt, denken könnte. Wir reden gleich, wir sind meist offen, manchmal auch knorrig, ja verstockt. Wir haben ein hohes Arbeitsethos, Pflichtgefühl, einen Erfindergeist und einen gemeinsamen Freiheitsdrang. Wir wissen, dass jeder zuerst für sich und die Seinen verantwortlich ist. Und dass nicht der Staat oder seine Beamten, sondern jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. Wir sind für Subsidiarität und gegen Zentralismus. Autoritäten sind uns suspekt – und allzu gerne machen wir uns über sie lustig, um sie (und uns) daran zu erinnern, dass sie eigentlich nicht allzu wichtig sind. 

Das sind unsere gemeinsamen, und ich glaube zutiefst alemannischen Eigenschaften. Sie haben uns geholfen, in kargen, kalten Jahrhunderten. Und es sind diese Eigenschaften, welche die Schweiz und Vorarlberg im 20. Jahrhundert erfolgreich gemacht haben. 

Sie dürfen stolz sein. Das Ländle hat einen riesigen wirtschaftlichen Aufstieg hinter sich. Sie haben innovative Wirtschaftsunternehmen, ja globale Champions – Blum, Alpla, Doppelmayr, Liebherr, um nur einige von vielen zu nennen – die global ausgerichtet sind. Während ganz Österreich 80 Prozent des Exportes in den EU-Raum macht, sind es in Vorarlberg mit 60 Prozent deutlich weniger, auch, aber nicht nur, wegen der Schweiz. Sie sind global unterwegs, wie die Schweiz auch. Der Rest Österreichs und der Grossteil der EU, ist es nicht. 

Es ist genau diese globale Ausrichtung, die heute mehr denn je in Gefahr ist, und zwar nicht nur durch Protektionisten in den USA oder China. Die Politik der EU-Kommission ist geprägt von zunehmendem Zentralismus, vom Zwang zum Einheitsbrei hinsichtlich der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, zu immer mehr Vorschriften im Arbeits-, Sozial-, Wirtschafts-, und Steuerrecht und immer weniger alemannischem Menschenverstand. Die EU-Kommission kritisiert den aufkommenden Protektionismus, und sie hat recht – aber sie praktiziert ihn selber. 

Sie müssen dieses Recht aus Brüssel übernehmen, ob sie wollen oder nicht. Sie dürfen zwar mitreden und ein paar Leute ins EU-Parlament schicken. Aber gemacht wird dieses Recht, machen wir uns da nichts vor, von nicht abwählbaren Bürokraten und von Deutschland und Frankreich. Alexis de Tocqueville – der grosse Staatsphilosoph des 19. Jahrhunderts und einzige Franzose bis heute, dem ich in politischen Dingen zustimme – kannte die EU noch nicht. Und doch schrieb er vor 180 Jahren beinahe prophetisch: “In Europa herrscht der Souverän auf zwei Arten: den einen Teil der Bürger lenkt er durch ihre Furcht vor seinen Beamten, den anderen durch die Hoffnung, seine Beamten zu werden.” Er hat recht. 

Der ewige Glaube der Politiker, staatliche Subventionen von oben, würden unten so etwas wie Innovation oder Wachstum entstehen lassen, ist auch in der neuen Kommission ungebrochen. Frau von der Leyen träumt von einem Fonds von 100 Milliarden. Dass sie das Geld vorher der Wirtschaft entziehen muss, auch jener des Ländles, scheint sie nicht zu kümmern. Die Vorarlberger Champions sind aber von unten gewachsen, nicht von oben verordnet worden, alemannisch halt. 

Zudem: Wer dem Staat zuprostet, der bezahlt am Ende die Getränke. Das wissen wir Alemannen. Sie werden für diesen Fonds zahlen und ausgegeben wird das Geld wesentlich in Ungarn, Tschechien und Polen, dort, wo die acht Stimmen herkamen, die Frau von der Leyen so dringend brauchte. Für jene, die vor allem in die EU exportieren, mag die Regulierung und die Steuerlast aus Brüssel kein Problem darstellen, denn auch deren Konkurrenz muss sich daran halten und mitfinanzieren.  Aber für jene, die global ausgerichtet sind – die Vorarlberger Champions oder die Schweizer Exportwirtschaft – führt dies zu höheren Kosten und weniger globaler Wettbewerbsfähigkeit. 

Je besser die Wirtschaftsentwicklung in Vorarlberg, desto höher die Löhne, desto innovativer und globaler muss die Vorarlberger Wirtschaft werden um noch Gewinn zu machen – und desto schlimmer wird, was sich Bürokratenhirne unter der Anleitung von Franzosen und Deutschen an Vorschriften und Steuerlast ausdenken. 

Die Schweiz müsste bei einer Zustimmung zum Rahmenabkommen genau die Regulierung aus Brüssel ebenfalls übernehmen. Darüber ist die Wirtschaft zutiefst gespalten: Jene Unternehmen, die sich völlig auf die EU ausgerichtet haben, die stimmen dem zu. Sie bilden ihre Meinung aufgrund ihrer Kundenkartei und der kurzfristigen Interessen ihrer Manager. Jene die bereits jetzt global ausgerichtet sind und weiter als die nächsten zwei-drei Jahre voraus schauen, das sind meist Familienunternehmen, die in Generationen denken, die können sich das nicht leisten. 

Exportorientierte Volkswirtschaften können sich in unseren globalisierten Zeiten nicht mit der EU zufrieden geben. Sonst droht ihnen eine Deindustriealisierung. Schauen Sie nach Frankreich, wo nur noch der Staat floriert – oder Betriebe, die an seinem Tropf hängen. Oder schauen sie nach Deutschland, das gerade seine Autoindustrie abwrackt – diesmal aber ohne Abwrackprämie. 

Die Entwicklung in der EU läuft weg von Eigenverantwortung, weg von echter Innovation, weg von Subsidiarität und globaler Wettbewerbsfähigkeit, weg von all’ diesen alemannischen Tugenden. Hin zu einer riesigen Transferunion mit einer gegen Aussen abschottenden Regulierung. Das Resultat ist schon jetzt ein Kontinent mit rekordtiefem Wachstum. Und in einer EU ohne Briten wird sich diese Entwicklung beschleunigen. 

In der Schweiz fragen wir uns: Sollen wir wirklich grundlegende Entscheide fällen, in dem wir in unsere Kundenkartei schauen? Müssen wir uns wegen kurzfristigen Nachteilen allem unterziehen, was wir langfristig falsch finden?

Oder müsste es nicht darum gehen, die langfristigen Konsequenzen zu erahnen, global statt bloss europäisch zu denken und unsere eigenen Konsequenzen daraus zu ziehen?

Wie die deutsche Kanzlerin Angela Merkel gern betont, kommen auf die Europäische Union etwa sieben Prozent der Weltbevölkerung und ein Viertel des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP), aber mehr als 50 Prozent der weltweiten Sozialausgaben. Sie hat recht. Aber sie scheut sich davor, das zu tun, was nötig ist. Es wird langfristig nur gehen, wenn wir zu alemannischen Grundtugenden wie Selbstverantwortung und Subsidiarität zurückkehren. 

Mein Freund Carl Baudenbacher, liechtensteinischer Repräsentant am Efta-Gericht und jahrelang dessen Präsident, schrieb einmal in der Londoner Times, Europa habe zwei Seelen in der Brust: eine merkantilistische mit einem Primat der Politik und eine freihändlerische mit einem Primat der individuellen Freiheit. Es besteht für mich kein Zweifel, zu welcher Seele Europas Vorarlberg und die Schweiz gehören. Die Süddeutschen übrigens auch. Die Niederländer ebenso. Und die Briten. Lasst uns echt weltoffen und alemannisch bleiben, statt nur europäisch. Und wenn Sie das in der EU nicht können, dann stimmen sie einfach noch einmal ab. So schwarz sind sie ja auch nicht mehr wie 1919. 

Darum: Make Alemannen Great Again! Und wenn ich Donald Trump wäre, würde ich noch anfügen: And grab Austria by the Ländle!

Festrede anlässlich des VCV-Festes in Rankweil (AT), 07.09.19, Bild: Theophilos Papadopoulos / flickr.com, CC-Lizenz, unverändert)

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The letter has been circulating in Brussels for days and in Bern since last Wednesday. It is a note of june 17th from the austrian EU Commissioner Johannes Hahn to Jean-Claude Juncker, the President of the EU-Commission on relations of the EU with Switzerland. The fact that the letter landed quickly in Berne should not be seen as a accident. It is addressed at least as much to the Federal Council of Switzerland as to EU leaders – and, of course, London.

Hahn writes to his boss that Switzerland is benefiting from the EU’s internal market, but that it is only “insufficient” adopting its regulation, which leads to unilateral advantages and discrimination against European companies. (He interestingly doesn’t think of dismissing the regulation that causes disadvantages for EU businesses.) There are no clear rules for state aid or a dispute settlement procedure that would give the EU legal certainty.

“I have the distinct impression that the Swiss government has been playing for time ever since our political agreement last year,” Hahn continues. The Federal Council is unwilling to commit itself to the agreement before the federal elections in October. For this, the Swiss asked for “clarifications”. In Hahns view they not “innocent”, but would lead to the reopening of the agreement on state aid, free movement of persons and the so called “flanking measures” on wage protection.

Hahn thus admits that the draft framework agreement neither guarantees wage protection, protects state aid, for example of the cantons, nor protects Switzerland from adopting the EU Citizens’ Directive. Hahn does not mention, however, that two weeks ago the Federal Council accepted the highly controversial domestic dispute settlement mechanism with an arbitration tribunal subordinated to the EU Court of Justice.

Contrary to the willingness of the EU to swiftly provide the “clarifications” requested, the Federal Council wants to carry out further internal consultations instead of working hard on the “domestic landing zone”, Hahn continues. The extension of stock exchange equivalence at the end of 2018 was in his eyes a symbolic incentive for Switzerland so that the Federal Council would sign the agreement quickly and would stand behind the framework agreement.

Hahn writes that he comes to the conclusion that Switzerland’s steps in favour of the framework agreement are “clearly insufficient”. There was a lack of political will. The expiry of stock exchange equivalence is the “warning shot” that Switzerland “needs”. But the EU must also indicate that it will revert it, if Switzerland commits itself credible and lasting “buy-in” for the agreement.

A punishment of Switzerland and a signal to London

Hahn also admits, however, that the phasing out of stock market equivalence will not cause any major disruption to the financial centre. (He maybe discussed this with his mate Susanne Riess…) “We simply cannot accept further attempts of foot-dragging and watering down internal market rules, especially in what is probably the decisive phase regarding Brexit.” Hahn thus explains that he is not concerned with the technical question of the equivalence of stock exchange regulation, but with punishing Switzerland and sending a signal to London.

In December 2017, the then President of the Federal Council, Doris Leuthard, described the behaviour of the EU as “discrimination” and the link between this question and institutional issues as “irrelevant and unacceptable”. The Federal Council doubted the legality of these “discriminatory decisions”. Since this time it is a question of the triangular relationship between Brussels, Bern and London and Switzerland is to a certain extent being turned into a Brexit boy, the illegality is likely to be even more evident.

Published at Tamedia on june 21st, 2019 – there you’ll find the letter in full as PDF: https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/der-unfreundliche-brief/story/10305649

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Bundeshaus Bern

Bearer shares have to be abolished in Switzerland within five years. But the basic problem remains: the globalisation of politics.

The bearer shares of 55,000 Swiss companies must be converted into registered shares within the next five years. Only bearer securities of listed companies and other few exceptions are permitted. This was decided by the National Council (Hause of Representatives) on Wednesday. It gave in to the Council of States (Senate) and international pressure. A piece of economic history is thus disappearing. Originally, the public limited company was an association of donors that one did not need to know, a “Société Anonyme”, as it is still called in french today.

For some years now, however, the international economic organisation OECD has seen bearer shares as a means of money laundering and in their owners malicious criminals. It ordered their abolition by the end of October. Shares that are not converted within five years will be destroyed. This represents an unprecedented encroachment on the property security of the owners and is questionable under the rule of law. It was foreseeable that the National Council would give in despite initial opposition. Many politicians like themselves in the role of the “Winkelrieds” (a well known battle hero here in Switzerland) against international interference, only to finally give in when the threatening consequences become concrete.

Without the participation of the governed

This does not change the basic problem: the globalisation of politics, which leads to diplomats working out the law in hidden circles instead of elected representatives of the people. They cannot be held accountable to the public for what they decide. And they certainly cannot be voted out of office.

In may, an OECD delegation – with the compliant support of the Finance Department – took direct influence on the parliamentary deliberations. This undermines the core of democracy: the rule of the people, the promise of the rule of law not to overrule those governed, but to enact the law with their cooperation by which everyone must abide.

Published at Tamedia on june 13th, 2019:  https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/aushoehlung-der-demokratie/story/24816591

Picture: (fi.)

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For years, the Federal Council of Switzerland has said that the G-20, the body of heads of state of 20 big economies, and the OECD are all about more transparency in tax matters and preventing harmful practices in corporate taxation. Switzerland had to join in, so it was said, so as not to end up on a “gray” or even “black” list. Just over two weeks ago, many voters approved the abolition of cantonal tax privileges for this reason.

Now the mask has fallen. Under the pretext of taxing the big Internet companies, a working group of the OECD on behalf of the G-20 and circumventing the elected parliamentarians of the member countries to a completely new company taxation. Companies should also pay taxes where they sell their products. And a minimum tax rate should prevent this from being circumvented. The proposal enjoys the support of numerous large countries such as Germany, France and the USA.

The proposal aims for the dynamics of an open society

The competition for a good framework for the economy, including low corporate taxes, will not be abolished, but it will be useless. However, if countries no longer have to take good care of the environment, because they are all equally bad, then they will increase taxes together. In the future, a decision by the G-20 or the Council of Ministers of the OECD will suffice. You do not have to be a clairvoyant to predict that.

This has consequences, because wages, wealth, infrastructure and social security in Western countries are based on economic growth. Less growth means lower wages. The state can only spend what was first earned in a free economy with innovative products. Poor conditions and high taxes prevent growth, as even the OECD admits in its papers. And the high corporate taxes are ultimately always paid by the general public, especially by the employees of the companies. The OECD proposal aims at the inventiveness and entrepreneurship of free people, at the dynamics of an open society.

Nobody fights back

The OECD was founded in Paris in 1948 to accompany the implementation of the Marshall Plan for the reconstruction of devastated Europe. It was once a platform for sharing good economic policy for the common good. This has become today a power cartel of the politicians of the great powers. These are always treated gently, if they just do not want to participate.

By the way, the G-20 and the OECD are unleashing democratic processes. The decisions of global political elites must be implemented, otherwise threaten “black lists”. They behave as a world government – but without democratic mission and legitimacy. They are in fact right, without being accountable to the public and without being able to be voted out. In this democratic deficit lies the breeding ground for the populist resistance to international cooperation. Each country can veto decisions taken by the OECD. What must happen before Switzerland, together with other countries, works to secure an open and democratic society?

Published at Tamedia on june 6th, 2019: https://www.tagesanzeiger.ch/wirtschaft/standardkartell-der-politiker/story/24411947

Picture: https://flic.kr/p/T7TLyS by OECD Organisation for Economic Co-operation and Development (CC-License: https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/)

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JUSOP Schweiz Rumhängen erlaubt
Franz Oppenheimer, 1864 in Berlin geboren, 1943 in Los Angeles gestorben, war Arzt, Soziologe und Volkswirtschaftler – in dieser Reihenfolge. Einer seiner Schüler war Ludwig Erhard, der erfolgreichste deutsche Wirtschaftsminister. Ohne dessen rasche Einführung der freien Marktwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg hätte das Land nicht das «Wirtschaftswunder» erlebt, von dem es genau besehen noch heute zehrt.

Weil Oppenheimer nicht nur Ökonom war, lesen sich seine Schriften für Nicht-Ökonomen noch heute mit besonderem Gewinn. Er arbeitete zuerst als Arzt in einem Armenviertel in Berlin, wandte sich der Soziologie zu und wurde deren erster Lehrstuhlinhaber und erkannte letztlich in der Volkswirtschaftslehre als Sozialwissenschaft den Schlüssel, etwas für das «Leben der Staatsgesellschaft» zu tun.

1909 schrieb er in seinem Hauptwerk «Der Staat», es gebe grundsätzlich zwei Arten, wie ein Mensch die Mittel erlangen könne, um seine Bedürfnisse zu befriedigen: «Arbeit und Raub, eigene Arbeit und gewaltsame Aneignung fremder Arbeit.» Selten hat jemand so einfach festgehalten, worum es in der Politik eigentlich geht, abseits der schön klingenden Floskeln von «Gemeinwohl» und – gerade jetzt in Zeiten von Bundesratswahlen – von «ich will dem Land etwas zurückgeben». Nach Oppenheimer gibt es jene Menschen, die mit ihrer Arbeit etwas herstellen, das jemand anders ihnen zu einem frei verhandelten Preis abkauft, weil sie damit einverstanden sind und weil der Preis höchstens so gross ist wie der Wunsch oder die Notwendigkeit, dieses Gut oder die Handreichung zu bekommen.

Auf der anderen Seite gibt es jene, die sich mithilfe der Politik, genauer mithilfe des Staats und seines Gewaltmonopols die Arbeit anderer oder den Ertrag aus der Arbeit anderer aneignen. Es gibt für Oppenheimer also jene, die arbeiten, und es gibt jene, die von der Arbeit anderer leben. Es gibt jene, die Steuern bezahlen, und es gibt jene, die Steuern verdienen. Welches Prinzip das Gerechtere ist, jenes des freien Tausches von Arbeit gegen Geld oder jenes des Raubes, sogar wenn er irgendwie demokratisch legitimiert ist, dürfte jedem klar sein.

Nächste Woche veröffentlich der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) seinen «Verteilungsbericht». Man braucht kein Prophet zu sein, um zu wissen, was da drinstehen wird. Da wird einmal mehr stehen, wie viel Vermögen die wohlhabendsten fünf Prozent der Bevölkerung haben. Das wird auch dieses Mal sehr viel Geld sein, eine Zahl mit ziemlich vielen Nullen dahinter. Der Gewerkschaftsbund wird vermutlich die Erhöhung von Steuern, zum Beispiel die Erhöhung der Lohnbeiträge im Steuer-Kuhhandel, preisen und weitere Steuererhöhungen oder gar die Einführung von neuen Steuern fordern, zum Beispiel eine Kapitalgewinnsteuer. Dies, obwohl die Schweiz schon eine Vermögenssteuer kennt, die nichts anderes als eine Reichtumssteuer (mit all ihren Kollateralschäden in Form von weniger Wirtschaftswachstum) darstellt. Der Gewerkschaftsbund wird auch versuchen, von einer immer grösser werdenden Ungleichheit der Verteilung der Vermögen zu berichten, ungeachtet der Tatsache, dass die diesbezüglichen objektiven Daten die Behauptung nicht im Geringsten stützen.

Wovon der SGB unter keinen Umständen reden wird, ist die Tatsache, dass dieses Geld der reichen Leute nicht unter ihrem Kopfkissen und grossmehrheitlich auch nicht auf einem Bankkonto liegt, sondern Risikokapital von Unternehmen darstellt, Unternehmen, bei denen Leute gutes Geld verdienen – auf dem sie nicht zu knapp Steuern bezahlen, Unternehmen auch, bei denen Leute beschäftigt sind, die zum Gewerkschaftsbund gehören und ihn finanzieren (siehe auch das Video unten mit Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman).

Ausgerechnet jene, die sich als Vertreter der Arbeitnehmer sehen, also der Leute, die nach Oppenheimer vom ehrlichen Verkauf ihrer Arbeit leben, werden sich nächste Woche für mehr Staat und mehr Zwangsabgaben, also für das Prinzip Raub ins Zeug legen. Ihre schwindende Mitgliederzahl zeigt, dass dies immer mehr Leute merken. (veröffentlicht in der Basler Zeitung vom 20.10.18, Bild: JUSO Schweiz, CC-Lizenz, unverändert)

Milton Friedman – zeitlos – warum es nicht funktioniert, die Reichen höher zu besteuern (abgesehen vom Director’s Law):

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Bündner Kuh
Die Schweizer Landwirtschaftspolitik strotzt nur so von Fehlanreizen und absurden Regelungen. Das System der von der Fläche abhängigen Direktzahlungen fördert zum Beispiel Hobbybauern, die einem normalen Beruf nachgehen und nebenbei noch einen Bauernhof betreiben, und bestraft jene, die voll auf die Landwirtschaft setzen, aber nicht mehr Land bewirtschaften können, weil es durch die Hobbybauern besetzt wird. Das System zementiert so Strukturen, wo Strukturwandel die echten Schweizer Bauern wettbewerbsfähiger machen würde. Daneben gibt es Tausende von zusätzlichen Subventionen, von Blumentrögen über Hecken und Hochstammbäume bis zu – tatsächlich – gestapelten Kuhfladen, inklusive einer Armee von staatlichen Kontrolleuren, die diese Ansprüche auf den Betrieben überprüfen müssen. Verbände und ihre Funktionäre kassieren Millionen für Absatzförderung, bei der die Vielfalt der Schweizer Bauern und die Qualität ihrer Produkte nicht sichtbar werden. Weiterhin meint die Bauernlobby, ihre Produkte könnten gegen ausländische Lebensmittel nicht bestehen, und hält an Zollschranken und Importverboten fest, obwohl nichts so sehr im Trend ist wie Produkte, die gut sind und «aus der Region für die Region» hergestellt werden. Darum bezahlen wir viel zu viel für Lebensmittel, was besonders jene trifft, die auf jeden Franken schauen müssen. Wenn sie können, versorgen sie sich im Ausland.

Das System Landwirtschaft ist so in Schieflage geraten, dass eine Subvention für jene Bauern, die ihren Kühen und Ziegen die Hörner belassen, nicht mehr ins Gewicht fällt. Der nächste Landwirtschaftsminister wird die Agrarpolitik der Schweiz sowieso unter die Lupe nehmen müssen und dabei hoffentlich die Profiteure bei den Hörnern packen. (veröffentlicht in der Basler Zeitung vom 17.10.18, Foto: Bad Kleinkirchheim (obwohl es eine Schweizer Kuh zeigt!) / flickr.com, CC-Lizenz, unverändert)

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Bundeshaus Bern
Man müsse der Bundesversammlung eine Auswahl an möglichen Bundesratskandidaten bieten, heisst es seit einigen Jahren, wenn ein Sitz in der Schweizer Regierung zu besetzen ist. Und wenn dann eine Fraktion mehrere Kandidaten auf den Schild hebt, dann wird oft die schwächste Persönlichkeit gewählt. Man mag der politischen Konkurrenz ja nicht das starke Aushängeschild zugestehen – schon gar nicht ein Jahr vor den eidgenössischen Wahlen. Im Resultat haben wir im Bundesrat schwache Personen – eine Wohlfühlregierung, die sich gegenseitig schont, statt hart diskutiert, die der Verwaltung ausgeliefert ist und schwierige Vorlagen unentschieden dem Parlament überlässt, statt selber Entscheide fällt. So geschehen bei der Unternehmenssteuerreform oder bei der Revision der Altersvorsorge.

Das war nicht immer so. Bis in die Neunzigerjahre hat die Fraktion mit Anspruch auf den Bundesratssitz meistens ihr stärkstes Mitglied aufgestellt und die Bundesversammlung hat dieses gewählt, manchmal erst nach taktischen Spielen. Zugegeben: Es waren die Bürgerlichen, die damit begannen, der SP unliebsame Kandidaten aufs Auge zu drücken, zuerst Bundesrat Otto Stich, später bei der Nicht-Wahl von Christiane Brunner den Neuenburger Francis Matthey, der dann allerdings zugunsten von Ruth Dreifuss verzichtete. Auch um derartige Spiele zu verhindern, nominieren Fraktionen heute oft Zweier- oder gar Dreiervorschläge.

Besonders durchsichtig ist die Forderung einer Auswahl bei den bevorstehenden Ersatzwahlen. Die Linke will von der FDP nur deshalb die Nomination von zwei Frauen, um die bürgerliche Karin Keller-Sutter nicht wählen zu müssen und trotzdem eine Frau wählen zu können. In der Vergangenheit haben SP und Grüne entgegen ihrem Bekenntnis zur Frauenförderung jeweils dem Mann den Vorzug gegeben. Ähnliches gilt für den Sitz von CVP-Bundesrätin Doris Leuthard. Die Linke fordert nur deshalb eine Auswahl, um entweder der ideologisch näherstehenden oder generell der schwächeren Persönlichkeit den Vorzug zu geben.

Das ist nicht im Interesse unseres Konkordanzsystems. Es braucht eine Regierung, in der die stärksten Persönlichkeiten aus den grössten Parteien zusammenarbeiten. Die Parteien sollten wieder zur ursprünglichen Gepflogenheit bei Bundesratswahlen zurückkehren, nämlich auch dem politischen Gegner einen starken Bundesrat zuzugestehen.

Dazu gehört, dass die Fraktionen grundsätzlich den Anspruch einer Partei auf einen Sitz akzeptieren – und auch die Nomination jener Person, die sie dafür aufstellt, sogar dann, wenn das vielleicht ein Mann ist. Auf taktische Spielereien ist zu verzichten. FDP und CVP sollten den Mut haben und je eine starke Person für den Bundesrat nominieren. (veröffentlicht in der Basler Zeitung vom 10.10.18, Bild (Bundesratshaus): fi.)

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Foto 14.12.12 12 22 24 EG Bundeshaus
Die Bilanz der bisherigen Legislatur fällt sozialdemokratisch aus – es droht die Enttäuschung der bürgerlichen Wähler

«Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.» Das schrieb der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) in seinen Bemerkungen zu seinem Stück «Die Physiker» vor bald sechzig Jahren. Gemäss Untertitel ist das Theaterstück eine Komödie, für den Zuschauer aber mindestens so sehr ein Drama. Genauso ist es mit der laufenden Legislatur des Parlamentes.

Die Geschichte dieser Legislatur begann am 18. Oktober 2015, am letzten Wahlsonntag. Die SVP gewann bei den Nationalratswahlen 2,8 Prozent dazu und erreichte mit 29,4 Prozent das beste Ergebnis, das je eine Partei seit 1919 erzielt hat. Ihr Sieg ging nicht etwa auf Kosten einer anderen bürgerlichen Partei, denn auch die FDP legte 1,3 Prozent zu. Die Bürgerlichen waren die Wahlsieger, Links-grün und die CVP die Wahlverlierer.

Der vermeintliche Rechtsrutsch

In der Elefantenrunde, kurz nach Bekanntgabe der ersten Hochrechnungen, warnte der damalige CVP-Präsident Christophe Darbellay vor einem Rechtsrutsch. SP-Präsident Christian Levrat vereinnahmte die CVP sogleich und meinte, es gebe trotz allem keine Mehrheit für FDP und SVP und man werde im Ständerat wie bisher gemeinsam politisieren, weil es der SVP nicht gelungen war, ihre Sitzzahl auszubauen.

Und so kam es auch. Die Legislatur wurde zu einem Siegeszug von Mitte-links – wie die beiden Legislaturen mit Mehrheiten von Mitte-links zuvor. Es ist, als hätten die Wahlen vor drei Jahren gar nicht stattgefunden. Warum? Die Strategen in der SP konnten sich bei sozialen Anliegen weiterhin auf die CVP verlassen, dies auch unter dem neuen CVP-Präsidenten Gerhard Pfister, der sich nicht getraute, seine Partei daran zu erinnern, dass staatliche Solidarität links und christliche Solidarität bürgerlich ist. Und immer dann, wenn die CVP nicht von vorneherein im Boot der SP sass, konnten sich die Sozialisten auf die FDP verlassen, die entweder aus Reflex gegen die SVP oder aufgrund von echten oder angeblichen Drohungen der EU gerne mit den Sozialisten zusammenspannte.

So geschah es schon im ersten Jahr des neuen Parlamentes bei der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative. Statt den Entscheid an der Urne ernst zu nehmen, wie noch am Abstimmungssonntag versprochen worden war, bastelte die SP zusammen mit der FDP im Sommer 2016 eine Nicht-Umsetzung, die selbst von linken Staatsrechtlern als verfassungswidrig betrachtet wurde. Das entscheidende Argument für den Schwenk der FDP war die angebliche Drohung der EU, das erste Paket der bilateralen Verträge zu kündigen. Die EU nahm gemäss Radio SRF aktiv Einfluss auf die Beratungen im Parlament. Es sollte nicht das letzte Beispiel von Gesetzgebung unter dem Diktat von Brüssel bleiben. Die SVP machte den Fehler, das Referendum gegen die Umsetzung nicht zu unterstützen.

Fake-News-Kampagnen

Bei der Unternehmenssteuerreform funktionierte die bürgerliche Zusammenarbeit mit den neuen Mehrheiten hingegen erstaunlich gut. Gebodigt wurde sie Anfang 2017 mit der ersten grossen Fake-News-Kampagne der Schweiz. Die Unternehmenssteuerreform sei ein «Milliarden-Bschiss am Mittelstand» liess die SP im Land plakatieren. Der Mittelstand müsse die Ausfälle bei den Unternehmenssteuern ausgleichen – dies, obwohl bis jetzt noch keine Unternehmenssteuerreform zu Steuerausfällen geführt, sondern im Gegenteil noch mehr Geld in die Staatskasse gespült hatte. Die Bürgerlichen, allen voran der für die Kampagne verantwortliche Wirtschaftsdachverband Economiesuisse, waren mangels ordnungspolitischem Kompass auf diese Argumentation nicht vorbereitet und auch nicht in der Lage, zu reagieren. Wer nie darauf hinweist, dass Unternehmenssteuern eigentlich von Mitarbeitern (mit tieferen Löhnen) und Kunden (mit höheren Preisen) bezahlt werden, kann in der Hitze des Gefechtes nicht darauf zurückgreifen.

Wenn die SP mit frei erfundenen Parolen gewinnen konnte, dann musste das auch der «Sonnenkönigin» (Blick) gelingen, Doris Leuthard. So versprach die einstige «Atom-Doris», ihre Energiepolitik ohne Atomkraftwerke sei «sicher, sauber, schweizerisch», und entfernte in der Nacht vor dem Kampagnenstart alle Hinweise auf das Gegenteil von den Webseiten ihres Departementes. Dabei wussten eigentlich alle, dass die Energiezukunft weder sicher noch sauber und schon gar nicht schweizerisch war. Bei der Energiestrategie hielt die Allianz der Wahlverlierer von 2015. In der CVP wagte niemand den Aufstand gegen die eigene Bundesrätin. Die FDP und der Gewerbeverband fassten unter dem Druck der Gewerbler, vom süssen Gift der Subventionen angelockt, gar die Ja-Parole. Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse hatte sich schon vorher aus dem Spiel genommen. Kurz darauf wurden neue Energiesteuern im Parlament beerdigt, welche es für die langfristige Energiestrategie konsequenterweise gebraucht hätte. Der Nachfolger von Doris Leuthard wird daraus die Konsequenzen ziehen und die angerichtete Abhängigkeit vom Ausland und die spätestens 2022 drohenden Versorgungsengpässe im Winter angehen müssen.

Nur ein halbes Jahr später sollte die im Ständerat gepflegte Mitte-links-Politik – wie von Christian Levrat angekündigt – einen ersten grossen Dämpfer erhalten. Im Herbst 2017 scheiterte der in Hinterzimmern und dem Vernehmen nach im Büro von Bundesrat Alain Berset eingefädelte «Kuhhandel», mit einem «Zückerli» von 70 Franken für Neurentner eine höhere Mehrwertsteuer für die AHV durchzubringen. Ausgerechnet das «Zückerli» wurde gemäss Nachwahlbefragung zu einem der wichtigsten Argumente gegen die Vorlage. Die FDP war die grosse Gewinnerin der Abstimmung. Sie hatte als Alternative ihren Plan B vorgeschlagen. Nach dem Abstimmungssonntag liess sie ihn bis heute in der Schublade ruhen. Auch von der SVP kam keine eigene Lösung. Es sollte sich als einer der grössten Fehler der Legislatur herausstellen.

«Schlimmstmögliche Wendung»

«Die schlimmstmögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein», hielt Dürrenmatt fest. Ohne die Niederlage des AHV-Zückerlis vor einem Jahr und die Passivität von FDP und SVP wäre die schlimmstmögliche Wendung dieser Legislatur gar nicht möglich gewesen, nämlich der Kuhhandel, aus den beiden gescheiterten Politikgeschäften der beiden Jahre zuvor, der Unternehmenssteuerreform und der AHV-Vorlage, ein Paket zu schnüren, wie es der Bundesstaat seit seiner Gründung noch nie gesehen hat. Es ist die Potenzierung der EU-Unterwürfigkeit der FDP und der nach links schielenden Sozialpolitik der CVP.

Unter politischem und zeitlichem Druck von der EU liessen sich FDP und CVP auf den Deal mit der SP ein, eine Unternehmenssteuerreform zu zimmern, welche absehbar in den allermeisten Kantonen nicht zu Steuersenkungen führt, und mit der die heute international attraktiven Steuersätze der Vergangenheit angehören. Und gleichzeitig spricht der Deal der AHV ohne jede echte Reform Milliarden zu, diesmal nicht aus der Mehrwertsteuer, sondern – für Sozialdemokraten noch besser – aus der Lohntüte aller Arbeitnehmer. Dies verteuert Arbeit und verschlechtert die Rahmenbedingungen für Unternehmen. Die EU-Hörigkeit bei Economiesuisse triumphierte über einst eherne bürgerliche Prinzipien.

Im Siegesrausch lancierte SP-Präsident Christian Levrat bereits die nächste sozialdemokratische Idee, nämlich einen Staatsfonds mit Geldern der Nationalbank. Abstützen konnte er sich ausgerechnet auf SVP-Nationalrat Thomas Matter, der einen ähnlichen Vorschlag ins Spiel gebracht hatte.

Über der ganzen Legislatur lagen die Verhandlungen der Schweiz mit der EU über ein Rahmenabkommen wie ein Findling auf einer Gletscherzunge. Daran änderte auch die Flucht des Aussenministers aus dem Amt im Sommer 2017 nichts. Sein Nachfolger Ignazio Cassis versprach zwar, den «Reset-Knopf» zu drücken. Doch seine sechs Kollegen liessen das nicht zu, weil man sie sonst hätte mitverantwortlich machen können für vier Jahre selbstverantwortete europapolitische Sackgasse. Man wurstelte darum weiter, und versucht bis heute – zum Beispiel mit einem Schiedsgericht, das kaum je etwas Entscheidendes zu sagen haben wird – so zu tun, als sei das Rahmenabkommen mehr als ein Unterwerfungsvertrag. SP, grosse Teile der FDP und der CVP, allen voran die Baselbieter CVP-Aussenpolitikerin Elisabeth Schneider-Schneiter, biedern sich derweil lieber bei der EU an, statt mit Grossbritannien zusammenzuarbeiten – und taktisch auf den Brexit zu warten.

2016 gewann Bundesrätin Simonetta Sommaruga mit vielen Versprechungen die Abstimmung über die erste von links befürwortete Asylrechtsrevision. Seither läuft die Umsetzung. Das Thema scheint vom Tisch, allerdings nicht wegen den Rezepten von Sommaruga, sondern weil andere Länder in Europa jene Politik zu machen bereit sind, über welche Sommaruga nicht einmal nachzudenken wagt. Die Fehlkonstruktionen in der schweizerischen Asylpolitik könnten bei einem erneuten Ansturm an der Grenze rasch auffliegen. Vielleicht schafft es die SP-Bundesrätin bis dahin, das Departement zu wechseln.

Wer also gehofft (oder befürchtet) hatte, der neue bürgerlichere Nationalrat werde die Privatisierung von Staatsbetrieben, die Streichung von Regulierungen, das Zurückbinden der Verwaltung oder nur schon ein Bremsen des Ausgabenwachstums der Eidgenossenschaft ins Auge fassen, der sieht sich drei Jahre nach dem «Rechtsrutsch» getäuscht.

Und es gibt keine Anzeichen, dass sich das ausgerechnet in den letzten zwölf Monaten vor den nächsten Wahlen noch ändern könnte. Derweil steigt die Gefahr, dass sich jene, die genau das erhofft hatten, von SVP und FDP abwenden werden. Im wichtigsten Index der Weltbank, der vergleicht, wie gut die Rahmenbedingungen für die Gründung und Führung von Unternehmen ist, hat die Schweiz seit 2015 dreizehn Plätze verloren und steht noch auf Platz 33.

Unter Druck

Fragt man unter der Bundeshauskuppel, wieso die bürgerliche Zusammenarbeit nicht funktioniere, bekommt man ausser Schuldzuweisungen nicht viel zu hören. Die SVP, vor allem unter ihrem neuen Fraktionschef Thomas Aeschi, sei zu keiner Zusammenarbeit fähig, weil sie «keinen Millimeter» vom Wahlprogramm abweiche. Der Zuger Nationalrat habe seine Macht in der eigenen Fraktion bis jetzt noch nicht konsolidieren können, was angesichts der eben beim Steuerdeal gespaltenen SVP-Fraktion glaubhaft scheint. Deshalb könne er seinen Leuten einen Kompromiss nicht schmackhaft machen. Umgekehrt sei die Situation der Wahlsiegerin SVP natürlich schwierig, wenn die FDP bei jedem auch nur angeblichen internationalen Druck nachgebe, sich reflexartig der SP zuwende und sich die CVP bei der Sozialpolitik schon im Voraus bei der SP anlehne. Ins Gewicht fällt die Zerstrittenheit bei SVP, FDP und CVP vor allem, wenn ein Geschäft in den Ständerat kommt. Dort ist die SVP in der Minderheit und die Zeiten bürgerlicher Grundsätze in FDP und vor allem in der CVP sind eine längst verblasste Erinnerung von Nostalgikern. Und in den wichtigen Geschäften wird dann der Nationalrat unter Druck gesetzt, einen Deal ja nicht mehr unter die Lupe zu nehmen – obwohl das im Zweikammersystem seine Aufgabe wäre.

Eine «Geschichte» inklusive ihrer schlimmstmöglichen Wendung sei «paradox», schrieb Dürrenmatt in seinen «21 Punkten zu den Physikern». Man sieht es in der laufenden Legislatur daran, wie nun die SP Seite an Seite mit der FDP, der CVP und Economiesuisse für höhere Lohnbeiträge in der AHV und eine Steuervorlage kämpft, welche dem föderalistischen Staatsaufbau und einem entsprechenden Steuerwettbewerb zuwiderläuft. Eine Dürrenmatt’sche Komödie – oder ist es ein Drama? –, das sich vor einem halben Jahr weder die Beteiligten noch deren Gegner hätten vorstellen können.

Dürrenmatt schrieb aber auch unter Punkt 19: «Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit.» Und wer sich dem Paradoxen gegenüberstelle, so Punkt 20, der setze sich der Wirklichkeit aus. Das ist die Wirklichkeit eines Mitte-links-Parlamentes trotz Rechtsrutsch, die Wirklichkeit einer verlorenen Legislatur. (veröffentlicht in der Basler Zeitung vom 27.09.18, Bild: fi)

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Nationalratssaal im Bundeshaus
Der Mist im Kuhhandel ist geführt. Der Hinterzimmer-Deal der SP mit CVP und FDP hat gestern gehalten. Vorerst. Die Nationalräte haben sich bei der Steuervorlage dem Ständerat angeschlossen und sich auf den Tag genau 170 Jahre nach der Gründung des Bundesstaates dazu hingegeben, wichtige Grundsätze dessen politischer Kultur ausser Kraft zu setzen.

Die SP hat die beiden Mitteparteien mit Hilfe von Drohungen aus der EU zeitlich und politisch unter Druck gesetzt – und CVP und FDP haben nachgegeben, statt eine bürgerliche Politik zu machen. Damit macht das Parlament zum ersten Mal Steuerpolitik mit einer Mitte-Links-Allianz. Die Wähler haben zwar vor drei Jahren die Bürgerlichen gestärkt. Bekommen haben sie bis jetzt in allen wichtigen Geschäften Allianzen von FDP, CVP und SP – wobei letztere inhaltlich den Ton angibt. Bei den nächsten Wahlen in einem Jahr können die Bürger entscheiden, ob sie das richtig finden.

Die SP bekommt nun, wovon sie seit Jahrzehnten nicht mehr gewagt hatte zu träumen, nämlich eine Erhöhung der Lohnprozente für die AHV, ohne jede Korrektur bei den Leistungen, die genau besehen längst nicht mehr finanzierbar sind. Unterstützt wurde die SP dabei nicht nur von CVP und FDP, sondern ausgerechnet vom Wirtschaftsdachverband Economiesuisse, der offenbar ohne jeden ordnungspolitischen Kompass seine Aufgabe nur noch in der Unterwerfung unter das Regime der Europäischen Union sieht. Die Steuervorlage gibt einen Vorgeschmack darauf, wie unfrei und undemokratisch Politik unter der Brüsseler Knute wird. In Abwandlung einer alten DDR-Parole sei den Bürgerlichen und der Wirtschaft zugerufen: «Von der SP lernen, heisst siegen lernen!»

Noch ist es aber nicht so weit. Ein Referendum jener ist wahrscheinlich, die sich dieses Gebaren nicht gefallen lassen wollen. Der Urnengang dürfte für die Befürworter der Vorlage beschwerlicher werden als das Ränkeschmieden in den Hinterzimmern des Bundeshauses. Sie müssen den Bürgern nämlich schmackhaft machen, dass sie zur «sozialen Abfederung» (Originalton) der Steuererleichterungen für die Wirtschaft mehr von ihrem Lohn abgeben müssen.

Vermutlich erleben wir dann den historischen Moment, wie der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse mit einem Millionenbudget Seite an Seite mit der SP in die Abstimmungsschlacht zieht – für eine Vorlage, bei der die Steuererleichterungen für Unternehmen höchst unsicher, die bedingungslose Zusatzfinanzierung für die AHV jedoch eine Tatsache ist. (veröffentlicht in der Basler Zeitung vom 13.09.18, Foto: fi)

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