"Dietegen"

Novelle von

Gottfried Keller

aus den "Leuten von Seldwyla", erstmals veröffentlicht 1874

"Der Knabe wurde Dietegen genannt, und dieser Taufname war sein ganzes Hab und Gut, sein Morgen- und Abendsegen und sein Reisegeld für die Zukunft."

"Da harrte der Leichtsinnige und der Verschwender neben dem Geizigen und dem Sorgenfreund seiner Stunde; der Zanksüchtige und der Friedliebende hielten mit gleicher Geduld ihre Kraft bereit; wer schweren Herzens war, hielt sich so still wie der Prahler und der Redselige; der Arme und Verlassene stand ruhig und stolz neben dem Reichen und Gebietenden. Ganze Gassen sonst im Streite liegender Nachbarn standen gedrängt; aber Neid und Missgunst hielten den Spiess oder die Hellebarde so fest wie die Grossmut und Leutseligkeit, und der Ungerechte richtete wie der Gerechte sein Auge auf die nächste Pflicht."

"Dietegen wurde ein angesehener Mann durch das Kriegswesen, nicht besser als andere zu jener Zeit, vielmehr den gleichen Fehlern unterworfen. Er wurde ein Feldhauptmann, der für oder wider die fremden Herren Partei nahm, Söldner warb, Gold und Beute raffte und so von Krieg zu Krieg sein Wesen trieb, gleich den Ersten seines Landes, so dass er emporkam und einen oft gewalttätigen Einfluss übte. Allein mit seiner Frau lebte er in ununterbrochener Eintracht und Ehre und gründete mit ihr ein zahlreiches Geschlecht, das jetzt noch in Blüte steht in verschiedenen Ländern, wohin der kriegerische Zug der Zeiten die Vorfahren einst getrieben."

 

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© dietegen.ch, by Dietegen Müller, Zurich, Switzerland 2001.

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