Ethik und Moral, Verantwortung, Verantwortungsethik
Klaus Jähne
Ethik und Moral, Verantwortung, Verantwortungsethik
K. Jähne
Abstract: Dieser Text enthält eine Einführung für das Oberseminar Medizin- und Informationsethik im SS2001 innerhalb des Studiengangs Medizinische Informatik an der FH Heilbronn / Uni Heidelberg. Dazu werden verschiedene ethische Grundbegriffe definiert und im Kontext erläutert: Ethik, Sitte und Moral, Verantwortung, Verantwortungsethik, Folgenethik, Pflichtenethik, Gesinnung. Des weiteren wird noch auf die Gegensätze zwischen Gesinnungs- / Pflichtenethik auf der einen Seite und Folgen- / Verantwortungsethik auf der anderen Seite eingegangen.
Keywords: Ethik, Sitte und Moral, Verantwortungsethik, Pflichtenethik, Folgenethik, H. Jonas
Ethik im heutigen Sinne ist eine Wissenschaft, die im Laufe der Moderne aus der Philosophie hervorgegangen ist. Die klassische Philosophie der Antike, die die Wurzeln der Ethik darstellt, beschäftigte sich seit Aristoteles - zunächst abstrakt - mit der Frage, wie der Mensch ein gutes und sinnvolles Leben führen soll und versucht, daraus konkrete Handlungsanweisungen für des Alltag zu gewinnen. Durch die zunehmende Komplexität des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebens kristallisierte sich die Ethik dann als eigene Wissenschaft heraus, die neben der Philosophie existiert, auch wenn ein Wissenschaftler, dessen Arbeitsbereich die Ethik ist, immer nach als Philosoph bezeichnet wird.
Eine Eigenschaft der Ethik als Wissenschaft ist ihre Unabhängigkeit (sonst wäre sie schließlich auch keine Wissenschaft für sich). Das bedeutet, dass sie versucht, die oben genannte Aufgabenstellung, also die Beantwortung der Frage Wie soll der Mensch ein sinnvolles Leben führen?, ohne die Thesen und Grundsätze anderer Wissenschaften zu lösen. Weitere Wissenschaften, die die oben formulierte Frage ebenfalls in der einen oder anderen Weise zu beantworten versuchen, sind zumindest:
Abbildung
1: Pyramide der Wissenschaften
Hierbei sollte jedoch auch berücksichtigt werden, dass die Ethik als Wissenschaft nicht völlig losgelöst von den anderen existiert, sondern dass sie einen Teil derPyramide der Wissenschaften (siehe Abbildung 1) ist. Bei dieser Hierarchie der Wissenschaften erfolgt eine Sortierung, bei der die oben liegenden Wissenschaften alle darunter liegenden als Hilfsmittel verwenden. Einen konkreten Nutzen für die Menschheit bringen nur die ganz oben liegenden Wissenschaften, während die ganz unten liegenden Wissenschaften für sich völlig autonom sind und anderen Wissenschaften Erkenntnisse und Werkzeuge zur Verfügung stellen:
Grundlagenwissenschaften (Mathematik, Logik, theoretische Informatik u.a.): Entwicklung formaler Werkzeuge und Erlangung abstrakter Erkenntnisse als Hilfswissenschaften
Naturwissenschaften (Biologie, Chemie, Physik, Astronomie u.a.): Beschäftigen sich mit der Natur: Beschreibung von Naturphänomenen und Erlangung von Erkenntnissen über deren Zusammenhänge
Kultur- bzw. Geisteswissenschaften (Sprachen, Soziologie, u.a.): Beschäftigen sich mit Phänomenen, die vom Menschen geschaffen wurden und untersuchen das Verhalten des Menschen in Bezug auf sich selbst, seine Mitmenschen und die Natur
Sinneswissenschaften (Philosophie, Ethik, Theologie): Beschreiben und ordnen das menschliche Leben an sich und versuchen, Antworten auf generelle Fragen danach zu finden. Die Philosophie widmet sich dabei der Suche nach der Frage Warum ist der Mensch?, während sich die Ethik - wie schon oben beschrieben - die Frage Wie soll der Mensch sein? stellt.
angewandte Wissenschaften (Medizin, Ingenieurswissenschaften, praktische Informatik, medizinische Informatik und viele andere) sind die Wissenschaften, die der Menschheit einen letztendlichen Nutzen im Sinne von Innovationen bringen. Sie stützen sich dabei auf die Erkenntnisse der darunter liegenden Wissenschaften. So ist die Medizin beispielsweise auf das Wissen der Biologie angewiesen, aber auch auf das anderer Wissenschaften wie die Chemie.
Auch wenn die Ethik eine relativ junge und nicht genau definierte Wissenschaft ist (Der Übergang zur Philosophie ist mehr oder weniger fließend), läßt sich die Ethik selbst in drei Unterdisziplinen einteilen, die verschiedene Ziele verfolgen:
deskriptive Ethik - beobachtet und beschreibt Verhalten, Sitten, Werte und Moral in verschiedenen menschlichen Gruppen oder ganzen Kulturkreisen. Diese Aufgabe erfüllt sie gemeinsam mit der Ethnologie, Psychologie und Soziologie.
normative Ethik - prüft und bewertet die geltende Sitte und Moral und versucht, Handlungsanweisungen zu geben.
Meta-Ethik - analysiert moralische Aussagen und versucht, diese zu rechtfertigen.
Wie aus diesen Definitionen hervorgeht, ist der Begriff der Moral für die Ethik von großer Bedeutung. Auf diesen wird in Kapitel 2 noch genauer eingegangen. Eine weitere Untergliederung der Ethik - genauer gesagt der normativen Ethik - ist durch die Einteilung anhand unterschiedlicher Ansätze bei der Suche nach dem richtigen Handeln möglich:
Pflichten- / Gesinnungsethik einerseits
Folgen- / Verantwortungsethik andererseits
evtl. eine Universalethik, die diese beiden Ansätze vereint
Eine Erörterung und Gegenüberstellung der Ansätze von Gesinnung- und Verantwortungsethik ist das weitere Ziel dieser Arbeit.
Auch wenn es somit offensichtlich ist, dass es sich bei der Ethik nicht um eine exakte Wissenschaft wie die Mathematik oder die Physik handelt, ist es nicht so, dass sie nur auf Gefühlen und subjektiven Meinungen basiert. Statt dessen gibt es einen Konsens an moralischen Wahrheiten, die die Grundlage der Ethik bilden. Die Prinzipien der Ethik lassen sich in zwei Bereiche teilen: In gewisse Grundsätze einerseits, und in gewisse Methoden andererseits - oder, um es in den Worten der Mathematik zu formulieren: in Axiome und in Algorithmen.
Welche Axiome liegen nun der Ethik zugrunde? Hier wird in der Literatur übereinstimmend ein Grundprinzip genannt, das auch gleichzeitig der moralische Grundsatz schlechthin ist. Diese goldene Regel lautet:
Was Du nicht willst, was man Dir tu', das füg auch keinem anderen zu.
Weitere Sätze lassen sich problemlos mit Hilfe einfache Methoden (siehe weiter unten) aus diesem ableiten, in dem man diesen Satz spezifisch für gewisse Situationen formuliert. Das Ergebnis ist ein Satz ethischer Grundnormen, die beispielsweise folgendermaßen formuliert werden können:
Du sollst nicht töten.
Du sollst keine Schmerzen verursachen.
Du sollst niemanden unfähig machen.
Du sollst niemandem seine Freiheiten oder Chancen entziehen.
Du sollst niemandem seine Rechte beschneiden.
Du sollst nicht stehlen.
Du sollst Deine Versprechen halten.
Du sollst nicht täuschen oder betrügen.
Du sollst dem Gesetz gehorchen.
Du sollst Deine Pflicht tun.
Dem Leser wird an dieser Stelle sicherlich auffallen, dass es sich bei dieser Aufzählung eigentlich um eine moderne Form der zehn Gebote der Bibel handelt.
Nachdem die Ethik jedoch auch den Anspruch besitzt, komplexere Probleme lösen zu können, muss sie auch in der Lage sein, auf neue Fragen oder in Konfliktsituationen Antworten zu finden - hier setzen die ethischen Algorithmen an. Eine Konfliktsituation ist beispielsweise die Frage nach Sterbehilfe bei der Behandlung von leidenden schwerstkranken Personen: Der Arzt darf eigentlich Grundnorm (1) und (2) nicht nicht verletzen. Die Ethik versucht hier durch die Mittel der Abwägung und Priorisierung diesen Widerspruch zu lösen, das heißt, über eine Rangfolge moralischer Werte erfolgt die Suche nach einer Lösung.
Eine andere wichtige Methode der Ethik ist die logische Schlussfolgerung sowie die Spezifizierung. Sie wurden auch schon für die Aufstellung der obigen zehn Gebote verwendet, indem die goldene Regel auf eine konkrete Situation bzw. Fragestellung angewandt wurde.
Es sei jedoch angemerkt, dass die Anwendung dieser Verfahren nicht nach festen Regeln erfolgt, sondern, dass sie je nach Situation zur besseren Orientierung dienen sollen. Daher kann auch auf das obige Beispiel (Sterbehilfe) keine pauschale und richtige Antwort gefunden werden.
Der Begriff der Moral fiel nun im Zusammenhang mit Ethik bereits mehrmals, was auch unausweichlich ist, da beide sehr eng miteinander verknüpft sind. Das Wort Moral ist jedem Menschen in irgendeiner Weise bekannt, was es jedoch genau bedeutet, soll nun erläutert werden.
Die Unausweichlichkeit für den Moralbegriff in der Ethik resultiert daraus, dass es ohne Moral keine Ethik geben würde. Sie wäre dann leer und ohne praktische Bedeutung. Die Ethik ist - wie schon oben erläutert - eine Wissenschaft, und zwar die Wissenschaft über das, was gut ist bzw. wie sich der Mensch verhalten soll. Der Mensch versucht nun jedoch nicht von sich aus, sich auf die Ethik zu berufen, wenn er gut handelt1, sondern er tut dies instinkthaft, da er gewisse Normen und Werte verinnerlicht hat. Genau dabei handelt es sich bei Moral und Sitte.
Moral und Sitte sind also die Menge an gelebten und praktizierten Ver- und Geboten sowie die der als gut und schlecht bewerteten:
Handlungsweisen und -muster,
Wertevorstellungen und
Sittenvorstellungen
Für den Mensch sind sie der normative Grundrahmen, indem er sich bewegt, wenn er handelt. Dieses Verhalten äußert sich gegenüber:
sich selbst
seinen Mitmenschen
der Natur
Somit handelt es sich bei Moral und Sitte um alles Gültige im Leben, was dem Menschen eine Stütze bei der Suche nach richtigen Entscheidungen liefert, wobei Moral und Sitte so weit verinnerlicht sind, dass diese Suche unterbewusst, also ohne einen nachvollziehbaren Denkprozess geschieht. Somit läßt sich Moral und Sitte auch von anderen verwandten Begriffen wie Recht, Etikette, Brauch und Gewohnheit abgrenzen.
Warum gibt es aber überhaupt Moral und Sitte? Wie viele andere Grundzüge des menschlichen Verhaltens kann man sie als Folge der Evolution verstehen: Wo die Entwicklung der Instinkte nicht der raschen Entwicklung des homo sapiens sapiens folgen konnten, wurden sie durch Moral und Sitte ergänzt. Ihre Aufgabe findet sich vor allem im menschlichen Zusammenleben: Sie schaffen ein gegenseitiges Vertrauen und stabilisieren somit soziale Systeme und ermöglichen eine Integration darin. Somit unterscheidet ein Mensch zwischen seinem System und anderen, die damit als fremd empfunden werden.
Gleichzeitig ermöglichen Moral und Sitte dem Menschen auch Selbstdarstellung und -verwirklichung. Dies kann nun als Widerspruch empfunden werden, da ja Moral und Sitte dem menschlichen Handeln Grenzen zuweist. Da aber die Selbstdarstellung gerade im Rahmen akzeptierter Normen erfolgt, ist es überhaupt möglich, dass das Handeln von anderen Mitmenschen verstanden und bewertet werden kann.
Jeder Mensch, der handelt, stellt sich vor den Begriff der Verantwortung, das bedeutet, er muss sich für eventuelle Folgen seine Handelns rechtfertigen und verantworten. Voraussetzung dafür ist, dass der Mensch zurechnungsfähig ist, da ihm seine gegenwärtige Situation und die Folgen seines Handelns bewusst sein müssen. Besteht ein Schaden, so sucht man dafür einen Verantwortlichen, das bedeutet, es gibt einen Menschen, der deterministisch die Ursache dafür ist. Hat nun ein Mensch einen Schaden verursacht (und er ist zurechnungsfähig), so wird er dafür verantwortlich gemacht, da er aus freiem Willen, also nicht-deterministisch gehandelt hat. Die Verantwortung steht also in der Antinomie der Deterministik.
Der Begriff der Verantwortung beschreibt insgesamt ein vielschichtiges Phänomen. Die Verantwortung spielt sich in drei Stufen ab:
Die Primärverantwortung gliedert sich in eine Verantwortung für eine bestimme Rolle, die der Handelnde übernommen oder zugewiesen bekommen hat (interne bzw. Ausgabenverantwortung) und in eine Verantwortung für die Folgen seines allgemeinen Tuns (externe bzw. Handlungsverantwortung)
Die Sekundärverantwortung ist die Anschuldigung oder Verdächtigung oder das Ablegen einer Rechenschaft vor einer Instanz, als Folge einer evtl. Verletzung einer Verantortung
Die Tertiärverantwortung tritt ein, wenn sich die Anschuldigung bestätigt und führt dann zu Haftung, Schadensersatz und evtl. Strafe für eine Verfehlung oder Vernachlässigung
Somit gibt es einen Vektor der Verantwortung, der mindestens drei Dimensionen enthält:
Person
Aufgabe / Charaktereigenschaft
Instanz - Es kann sich dabei um ein Gericht, einen Mitmenschen, des Gewissen oder Gott2 handeln
Bei Lenk erfolgt noch eine Erweiterung um drei weitere Dimensionen: Adressat, Rahmenkriterium und Verantwortungsrahmen.
Bei der Gesinnung handelt es sich um ein individuelles Phänomen - im Gegensatz zur Moral. Da sie individuell ist, kann sie im Gegensatz zu Moral und Sitte nicht kulturell vererbt werden, sondern sie entwickelt sich im Kleinkindalter. Ihr Antrieb ist das Gewissen, das im Rahmen der Sozialisierung ebenfalls in diesem Lebensstaduim geformt wird, während Moral und Sitte als Ergänzung der menschlichen Instinkte gesehen werden können.
Die Funktion der Gesinnung läßt sich gut in einem Diagramm veranschaulichen (Abbildung 2). Der Mensch verfügt über sein Gewissen, gewisse moralische Normen und Werte und einen Wissensschatz. Bevor er nun eine Entscheidung trifft - wobei der Anlass dazu eine Empfindung von außen ist - wird durch die Gesinnung eine Vorauswahl an möglichen Optionen getroffen. Die Gesinnung eines Menschen ist also anhand seines Sprechens, seiner Gestik und seines Handelns erkennbar.
Abbildung
2: Diagramm der Gesinnung
Die Gesinnung rechtfertigt auch letztendlich eine Entscheidung - sie verleiht für den Menschen der Handlung einen Sinn. Ein wichtiges Phänomen der Gesinnung ist ihre Unabhängigkeit von einem tatsächlichen Erfolg der Handlung - einziger Antrieb ist, daß das Gewissen Gutes tun will.
Wie schon ausgeführt, können in der normativen Ethik zwei Ansätze festgestellt werden. Der erste und auch ältere läßt sich auf den deutschen Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) zurückführen, den den Begriff des kategorischen Imperativs geprägt hat. Seine Aussage lautet:
Handle so, daß als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.
Kants Annahme besteht also darin, daß alleine die Maxime - also der Hintergedanke - einer Handlung nur moralisch gut sein muß, um verallgemeinert die Grundlage für sämtliches gutes Handeln zu sein. Nun ist der Hintergedanke im moralischen Zusammenhang aber genau die im vorherigen Kapitel erläuterte Gesinnung, womit Kant die sogenannte Gesinnungsethik begründet.
Die Anwendung dieser Ethik fällt relativ einfach aus: Der ethisch handelnde Mensch hat seine Gesinnung zu prüfen, und muß sich fragen, ob sie auf eine offene Fragestellung eine zufriedenstellende Antwort liefert. Damit liegen die Nachteile jedoch auf der Hand: Jede Entscheidung ist nur eine Frage der Gesinnung, mit den folgenden Konsequenzen:
Es zählt nur die Absicht, der Erfolg der Handlung wird nicht berücksichtigt. Führt sie nicht zum Erfolg, ist die Schuld dafür in der Umwelt zu suchen
Folgen und Nebenfolgen werden ebenfalls nicht berücksichtigt
Die Gesinnung ist individuell - es gibt also keine universell gültige Gesinnungsethik, sondern nur eine individuelle, basierend auf der eigenen Gesinnung. Da diese aber von Fakoren wie dem eigenen Wissen abhängig ist, kann sich die beste Absicht in ihr Gegenteil verkehren, wenn es eine Diskepanz zwischen dem wirklich Guten und der eigenen Auffassung gibt.
Ausgehend von den oben genannten Mängeln der Gesinnungsethik entwickelte sich in der darauf folgenden Zeit ein neuer und gegensätzlicher Ansatz, der anstatt der Absicht einer Handlung ihre Folgen in den Vordergrund stellt - die Folgenethik, auch als teleologische Ethik oder Verantwortungsethik bezeichnet. Die betrachteten Folgen werden dabei in einem größeren Rahmen betrachtet. Somit lautet die Frage: Ist der Nutzen einer Handlung für die Gesellschaft gut oder schlecht?
Zielkriterium ist als der größtmögliche Nutzen für alle - es gibt keinen unethischen Egoismus, sondern es findet eher ein Interessenausgleich statt. Doch auch dies kann zu negativen Effekten führen: So argumentierten schon Manager, die Bestechungsgelder gezahlt hatten, dass sie damit viele Arbeitsplätze gerettet hatten, und dass der Nutzen diese unmoralische Tat gerechtfertigen würde. Unmoralisches Verhalten wird also durch die Folgenethik eher begünstigt.
Die historische Entwicklung - erst die Gesinnungs- dann die Folgenethik - läßt sich auch begründen: Noch zu Beginn der Industrialisierung waren der Entwicklung der Menschheit keine Grenzen gesetzt - jeder Mensch hatte (zumindest nach Ansicht der damaligen Philosophie) die Möglichkeit, sich frei zu entfalten. So verwundert es auch kaum, daß eine der ersten Spielarten der Folgenethik, der Utilitarismus im 19. Jahrhundert aus England (dem Ursprungsland der Industrialisierung) stammt. Ihre Fortsetzung fand die Folgenethik dann in der Verantwortungsethik unter Max Weber (1864 - 1920) und Hans Jonas (1903 - 1993), deren Motive die politische Katastrophe nach dem 1. Weltkrieg bzw. die ökologische Katastrophe waren.
Am weitesten geht sicherlich die Verantwortungsethik unter Jonas: Er dehnt den Begriff der Verantwortung nicht nur von der Gesellschaft auf die gesamte Natur aus, sondern erweitert seine Sicht auch über die Gegenwart hinaus. Dabei versucht er zu verdeutlichen, daß es schon jetzt keinen wirklichen Fortschritt mehr für die Menschheit gibt, da der technologische Erfolg zu Lasten der Natur gibt. Der Mensch sei hier in der Verantwortung, da er eine Seinsverantwortung in sich trägt, das heißt, er ist durch seine bloße Existenz für den gesunden Fortbestand der Menschheit und der Natur verantwortlich.
So weit Jonas mit seinen Thesen geht, so weit werden diese auch kontrovers diskutiert. Beispielsweise läßt es Jonas völlig offen, wie die Verantwortung in einer so komplexen Gesellschaft wie der heutigen geteilt werden soll. Darüber hinaus führt die Annahme einer Seinsverantwortung zur Annahme einer Metaphysik, also eines Gottes in dem einen oder anderen Sinn: Wer sagt sonst, dass die Menschheit wirklich sein soll, anstatt einfach zu existieren, oder auch irgendwann nicht mehr3?
Den groben Zusammenhang zwischen den erläuterten Begriffen soll Abbildung 3 liefern. Die gegensätzlichen Ansätze der Gesinnungs- bzw. Folgenethik sind jeweils eine Anwendung der (normativen) Ethik und berufen sich also auf die Gesinnung einerseits bzw. auf die Verantwortung andererseits. Beide sind auf Moral und Sitte als erste Ursache für jeden ethischen Ansatz angewiesen.
Abbildung
3: Zusammenhang der Begriffe
Höffe O (1997): Lexikon der Ethik, München, C. H. Beck
Hubig C (Hrsg.) (2000): Ethische Ingenieurverantwortung, Düsseldorf, Verein Deutscher Ingenieure
Lenk H (Hrsg.) (1991): Wissenschaft und Ethik, Stuttgart, Reclam
Sass H-M (Hrsg) (1989): Medizin und Ethik, Stuttgart, Reclam
Jonas H (1984): Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M, Suhrkamp
Jonas H (1997): Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt/M, Suhrkamp
Keim F (2000): Was ist Computerethik?, http://vts.uni-ulm.de/cgi/get.exe?PartID=869
Byun S (1999): Verantwortungsethik im oestlichen und westlichen Denken, http://www.uni-karlsruhe.de/~Sunyung.Byun/einleitung.html
Byun S (1999): Der Verantwortungsbegriff bei Hans Jonas, http://www.uni-karlsruhe.de/~Sunyung.Byun/hans-jonas.html
1unter der Annahme, dass der Mensch grundsätzlich versucht, gut zu handeln bzw. gut zu sein
2nach Freud ist Gott eine Projektion des eigenen Gewissens
3Wie beispielsweise alle Dinosaurierarten oder heutige bedrohte Tier- und Pflanzenarten