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Der rote Faden: Der Realwirtschafter

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Ein Zufall machte Dirk Müller zu Deutschlands populärstem Finanzexperten. Seither liest er Politik und Wirtschaft die Leviten und prangert das System an.

Es gibt Menschen, die kann man sich nicht erschöpft vorstellen, weil sie schiere Unermüdlichkeit ausstrahlen. Dirk Müller, 46, ist so ein Mensch, und das nicht allein deshalb, weil er in der Öffentlichkeit bald so dauerpräsent ist wie sonst nur Spitzenpolitiker und Fußballer. In Zeiten wie diesen ist seine Expertise besonders gefragt. Die Zinsen sind im Keller, das Vertrauen in Aktien und vor allem in jene, die damit Geschäfte machen, fundamental gestört, selbst der Ölpreis befindet sich auf Talfahrt – und ist nun Gold eine gute Sache oder nicht?

2000 Jahre warten?

Bei Markus Lanz hat Dirk Müller einst in der ihm eigenen atemlosen Weise dargelegt, wie reich Jesus heute wäre, hätte Josef einen Euro für ihn angelegt und seither den Zinseszins arbeiten lassen. Aber wer will schon 2000 Jahre warten? Zehn Prozent in Gold, langfristig auf Aktien etablierter Konzerne bauen, Finger weg von überteuerten Immobilien – und ansonsten um jeden einen Bogen machen, der bombensichere Fonds mittlerer Risikogruppen verspricht: Viel mehr weiß Dirk Müller, Deutschlands populärster Finanz- und Börsenexperte seit ARD-Urgestein Frank Lehmann, zurzeit auch nicht zu raten. Aber das immerhin auf allen Kanälen, weil er auf allen Kanälen auch erklären muss, wie das nun ist und sein wird mit der Euro-Krise, mit Griechenland und Italien und den gigantischen Bankerboni und überhaupt mit dem gesamten Finanzsystem. Er, der bis vor wenigen Jahren aktiv auf dem Parkett mitgemischt hat, muss es ja wissen. Ein Insider ist er, ein Nestbeschmutzer und Nestbauer in einem sozusagen. „Finanzethos“ heißt die Gesellschaft, die Ex-Börsenmakler Müller gegründet hat, um sein medienwirksames Charisma zu vermarkten, der hehre Name soll Programm sein.

18 Stunden am Tag ist er dafür auf Draht, „komplett durchgetaktet“, sagt er, das ganze Jahr über – bis auf Dezember, da nimmt er sich halbwegs einen Sabbatmonat, um nachmittags mal einen Tee trinken zu können mit Frau und Sohn. Viel mehr übrigens lässt er sich über die Kleinfamilie nicht entlocken. „Den Text lesen ja nicht nur die Guten.“ 18 Stunden täglich, und unabhängig vom Tagesgeschäft, immer dieselben Fragen beantworten, immer dieselben Probleme wälzen. Ermüdet das nie? „Ich bin ein Überzeugungstäter“, sagt er und kneift die Augen zusammen so wie stets, wenn er Nachdruck verleihen will. Augen können nicht lügen, heißt es. Seine sind gerade gerötet, der Blick ist trüb. Zum Jahresendspurt Spuren des Stresses?

Vorhin noch stand Dirk Müller zum Fototermin für dieses Porträt auf dem Frankfurter Börsenparkett, wenige Meter von dem Platz entfernt, der ihn einst berühmt gemacht hat. Da noch fiel auf: Selbst wenn er steht, ist er in Bewegung. Aber diese Augen? Die banale Erklärung folgt am nächsten Tag, am Telefon: Eine Erkältung war im Anflug. Dirk Müller schnieft und schnäuzt, zum Bedauern ist es. Im Einsatz ist er trotzdem. Zum Jahreswechsel besinnt sich die Finanzwelt auf sich selbst, zumeist gipfelt das in absurden Dax-Prognosen: 11 400 Punkte, 11 500 Punkte. Die Volkswirte der Banken überbieten sich auch heuer bei dieser Auktion der Propheten. Müller steuert dagegen: „Die wollen die Anleger locken, da müssen sie Zuversicht verbreiten.“ Schwarzer Freitag 1929, Schwarzer Montag 2007: Alles kann jederzeit explodieren, wer will da seriös in die nächste Woche blicken? Die Zocker sagen, das mache den Reiz aus. Müller sagt: „Es ist Wahnsinn.“

Ein einziger Moment kann über dein Leben entscheiden. Sätze wie dieser erweisen sich je nach Schicksal im Nachhinein als Drohung oder Versprechen, an der Börse allemal. Noch keine 20 Jahre alt war Dirk Müller, als er diesen Satz aus dem Mund des Schauspielers Michael Douglas hörte. Im Kino sah er damals, 1987, das Hollywood-Börsen-Drama „Wall Street“; Douglas spielte den Finanzhai Gordon Gekko, und Abiturient Müller war fasziniert. Fortan gab es für ihn nur ein Ziel: Börsianer zu werden.

Dass er noch viel mehr geworden ist, verdankt er eben einem dieser kleinen, großen Momente. „Mr. Dax“ nennt man ihn seither. Den Spitznamen wird er nicht mehr los, als Marke zum Sendungsbewusstsein kann er nicht schaden. Drei Bestseller hat Dirk Müller geschrieben, auf seiner Informationsplattform „cashkurs.com“ vermarktet er unter anderem Börsenbriefe und Videobotschaften zum Börsentag, von seinen unzähligen Talkshow-Auftritten zeugen seitenlange Listungen auf Youtube. Als „Krisenerklärer“ hat ihn der „Spiegel“ einst ironisch tituliert und mit spöttischem Unterton beschrieben, wie bei Vorträgen die Bewunderer an Müllers Lippen hängen. Man kann seine Methode leicht als Trick mit doppeltem Boden abtun: Schließlich prophezeit Müller seit geraumer Zeit faktenreich und meinungsstark den endgültigen Zusammenbruch des Finanzsystems, um im nächsten Atemzug Generalkritik und Gegenrezept zu vereinen: „Die Politik versagt komplett. Ihr fehlt der Wille zur Veränderung.“ Dass das auch notorische Nörgler, Schwarzseher und Verschwörungstheoretiker befeuert, ist ihm schwerlich anzulasten. Er hat ja deshalb mit seinen Analysen nicht Unrecht.

Dass seine Strahlkraft gleichwohl absurde Dimensionen anzunehmen vermag, belegt ein Ereignis vom November. In einem österreichischen TV-Studio war der Ukraine-Konflikt das Thema, und Dirk Müller, nun wahrlich kein Experte auf diesem Gebiet, diskutierte mit zwei österreichischen Spitzenpolitikern und einem bekannten Wiener Journalisten. Keine zehn Minuten dauerte es, da war Müller auf Betriebstemperatur. Der Journalist stellte die These auf, die USA verfolgten in der Ukraine keine eigenen Interessen, worauf es Müller fast aus dem Stuhl katapultierte, er lauthals zu lachen begann und den Journalisten fragte, ob er Kabarett betreibe oder es ernst meine.

100 000 Aufrufe

Die Szene ist auf Youtube zu sehen, das Video als „Lachanfall von Dirk Müller“ ausgezeichnet. Mehr als 100 000-Mal ist es aufgerufen worden, und einmal mehr verdeutlichen die zahllos angehängten Kommentare, worin Müllers Erfolg vor allem gründet: Er wirkt so unverstellt und ist so undiplomatisch, als säße er in der Kneipe beim Bier. Glaubwürdigkeit heißt diese Leitwährung neuerdings. Müller fühlt sich ja auch niemandem verpflichtet, nicht dem Finanzkapital, nicht der Politik, schon gar nicht irgendeiner Partei. Mal analysiert er den Euro als Fetisch und erntet beim neoliberalen AfD-Vordenker Hans-Olaf Henkel Kopfnicken, mal prangert er die EU-Rettungsschirme als steuerfinanzierte Subventionen für gierige Großbanken an und findet in der Linken-Frontfrau Sahra Wagenknecht eine leidenschaftliche Mitstreiterin. Und immer klingt er wie einer, der den Regierenden und Wirtschaftseliten die Leviten liest. Deren Vertreter schauen denn auch recht betröpfelt drein, nicht selten auch zähneknirschend, als müssten sie sich verkneifen, Dirk Müller in die Parade zu fahren. Der Mann ist so etwas wie die gut informierte Stimme des Volkes. Da hält man sich lieber zurück.

„Der Einfluss der Lobbyisten auf die Politik ist zu groß“, legt der Vielgehörte denn auch gerne nach und erzählt von Symposien in Luxushotels mit Luxusprogramm, mit dem die Finanzwelt die Politik auf ihre Spur bringt. „Der normale Bürger hat keine Lobby“, sagt er andererseits und bringt sich selbst ins Spiel: „Ich möchte ein wenig zur Verbesserung beitragen.“ Seine Fans, von denen ihn manche in Internetforen als „den Dirk“ vertraulich anduzen, wünschten sich ihn schon längst in der Politik. In die Politik? Für ihn stellt sich die Frage nicht. Hin und wieder weilt er in Berlin zu Hintergrundgesprächen, zweimal schon diente er in Ausschusssitzungen des Bundestags als Sachverständiger. Aber was er in Berlin erlebt und wie er davon erzählt, klingt entmutigend: Unterhalb der Führungsspitze geballte Machtlosigkeit, sagt er. „Wenn ich manche Politiker anschaue, blicke ich in leere Augen.“ So wurde er mal zitiert, „verkürzt“, betont er. Vehement widersprechen will er seiner Diagnose aber auch im Roten-Faden-Gespräch nicht.

In seinem Besprechungsraum in der Frankfurter Börse, dort, wo seine Medienkarriere vor 15 Jahren ihren Anfang nahm, sitzt er an diesem Mittag im Frühwinter. Sein Rückzugsgebiet, ausgestattet mit einer voluminösen Sitzgarnitur, in kühlem Schwarz und Weiß gehalten, grenzt direkt ans Parkett und dokumentiert allein schon dieses exklusiven Standorts wegen die Bedeutung des Gastgebers. Der wiederum lässt in kürzester Zeit ein Gefühl der Nähe entstehen, wie er es selbst vor Kameras zu vermitteln weiß – was auch daran liegen mag, dass er noch mit ergrautem Haar nicht wie einer erscheint, der in den edlen Anzug hineingeboren ist. Eine angedeutete Tolle über der Stirn, der feine Rundbart mit dezenter Kinnbürste zeugen obendrein von Distanz zu den Erben der angestammten Geldelite, die auf teuren Privat-Unis die Dresscodes für Distinktion und Karriere eingebimst bekommen.

Vergiss nie deine Wurzeln. Im Film „Wall Street“ sagt dies ein alternder Gewerkschafter zu seinem Sohn, der drauf und dran ist, an der New Yorker Börse die Ideale des Vaters zu verraten. Dirk Müller hat auch das imponiert damals im Kino. Irgendwo zwischen Aktienboom und Sozialer Marktwirtschaft wollte er sich positionieren, „irgendwo zwischen Dagobert Duck und Donald Duck“. Er liebt seit jeher die Geschichten aus Entenhausen, er liest sie heute noch, noch immer zur Erbauung.

Die Wurzeln also. Geboren 1968 in Frankfurt, wuchs Dirk Müller seit frühester Kindheit in Reilingen auf, 7000 Einwohner, Nordbaden. Er lebte nie woanders, er unterstützt als Vorsitzender des heimatlichen Fördervereins Burg Wersau ebenda die historischen Ausgrabungen der Landesdenkmalpflege. An vielen Samstagen gräbt auch er, gemeinsam mit anderen Reilingern, Kinder sind mit dabei. Die zum Burggelände gehörende Schlossmühle will er 2015 anpachten, der Gemeinderat hat ihm einstimmig grünes Licht erteilt. Einen Archäologiepark plant Dirk Müller, wenige Ferienwohnungen auch. Im 17. Jahrhundert ist die Burg Wersau von den Franzosen zerstört, jeder Stein zum Häuserbau abgetragen worden. Unlängst stand Dirk Müller mit Gästen aus der französischen Partnergemeinde an der Burg, man trank Wein, man feierte einträchtig die Wiederbelebung des geschichtsträchtigen Ortes. Für ihn, den Hobby-Historiker und „glühenden Europäer“, ein erhabener Augenblick.

In seiner Börsenkarriere, wie er sie erzählt, war es diese Erdung, die ihn auf dem Teppich hielt, das Vorbild der Eltern vor allem. Die Mutter habe stets mehr auf andere geachtet als auf sich selbst, der Vater war Prokurist bei einer großen Versicherung, ein Kaufmann alter Schule. Dirk, das Einzelkind, ging nach dem Abitur zur Deutschen Bank, absolvierte 1993 die Börsenhändlerprüfung, kam ans Parkett, seinen Sehnsuchtsort, wechselte als Makler bald zu potenten US-Finanzdienstleistern und hatte seinen Arbeitsplatz irgendwann genau unter der Tafel mit der Dax-Kurve. Und da kam dieser wegweisende Moment, da begann es im März 1999.

Oskar Lafontaine trat als Finanzminister der Schröder-Regierung zurück, die Kurse stürzten ab, und Dirk Müller unter der Dax-Kurve zog ein Gesicht, als stünde das Jüngste Gericht bevor. Die Agentur-Fotografen fanden Gesicht und Kurve im Zusammenspiel ideal, und so war Dirk Müller am nächsten Tag auf zahllosen Titelseiten zu sehen. Bald stürzte die T-Aktie in den Keller, und wieder machte Müller medientaugliche Miene, und bald brach der Neue Markt zusammen, und Müllers Entsetzen war abermals allgegenwärtig. Bald wollte man wissen, was hinter diesem Gesicht vorgeht, also hielt man Dirk Müller Mikrofone vor die Nase, und Müller sprach, und den Leuten gefiel’s, und „Mr. Dax“ war geboren.

Sein unbremsbarer Furor speist sich seither nicht allein aus faulen Wertpapieren, erodierenden Volkswirtschaften und unbelehrbaren Akteuren, nicht allein aus eigenen Verlusten, über die er – selbstredend – nicht redet. Pathetisch formuliert, ist für ihn in der vergangenen Dekade eine Welt zusammengebrochen. Als junger Börsianer lernte er, dass Frankfurt anders tickte als London und New York. Natürlich hat auch er junge Karrieristen erlebt, die in der Wirklichkeit schneller zu Reichtum gelangten als in ihren Träumen, er hat die Abstürze auch erlebt, persönliche Dramen.

Doch all das selten. Die hanseatische Kaufmannsehre galt in seinen Anfangsjahren noch auf dem Parkett in Frankfurt, der Stadt, die ihm auch deswegen am Herzen liegt. Jedes Geschäft diente dem Zweck, beide Seiten zufriedenzustellen, schließlich wollte man am nächsten Tag wieder Geschäfte machen. „Wir waren eine verschworene Gemeinschaft.“ Heute wickeln Computer die Deals ab, Abermillionen Transfers in wenigen Sekunden. Keiner blickt durch, niemand fühlt sich verantwortlich, Aufsichten und Staatsanwaltschaften kommen nicht hinterher. Illegale Absprachen der Großbanken, ihre gezielten Manipulationen bei Nahrung, Rohstoffen und Devisen sind nur die Spitze des Eisbergs. „Organisierte Kriminalität“, sagt Dirk Müller und liefert zum Beleg die Definition aus dem juristischen Lexikon.

Vor 700 Studenten

Und nun das: Der Mann nennt sich einen Optimisten. Das verstehe, wer will. Wie er es versteht, ist er nämlich eher ein radikaler Positivist. Er gehört ja der letzten Generation an, die mit der Illusion aufwuchs, der Kapitalismus verfüge über selbstreinigende Kräfte. Damals war noch Soziale Marktwirtschaft, herrschte der Konsens, dass das System die Menschen ernähren müsse und nicht umgekehrt. Heute, da die wenigen Superreichen vor allem dem mittelständischen Unternehmertum Geld entziehen, bleiben nurmehr Appelle. Dirk Müllers Appell immerhin wird gehört: „Das Finanzkapital muss wieder Dienstleister der realen Wirtschaft sein und die Politik wieder der Schiedsrichter auf dem Platz.“ Schön und gut, aber wie soll das geschehen? Durch selbstreinigende Kräfte, sagen radikale Positivisten. Bei Müller klingt das so: „Ich gebe dem System nicht mehr lange. Und vielleicht ist es gut, wenn es zusammenbricht.“

Fragt sich nur, wer es dann wieder aufbaut. Dirk Müller weiß dazu eine Geschichte zu erzählen: Unlängst sprach er vor 700 Studenten. Eine junge Frau kam danach auf ihn zu und sagte, dass er sie einst dazu bewogen habe, Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Nun aber fürchte sie, ihre moralischen Skrupel seien zu stark. Dirk Müller erwiderte, sie sei genau deshalb die Richtige: „Wir dürfen die Finanzwelt nicht den Drecksäcken überlassen.“

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