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Pietro Ingrao wurde 100!

von Christina Ujma

Der große Euromarxist Pietro Ingrao wurde am 30. März 100 Jahre alt, deshalb wird es in Italien viele Festakte, Fernsehsendungen, Radioprogramme, Vorträge und Huldigungen geben. In seiner Heimatstadt Lenola wird mit einer ganzen Festwoche gefeiert. Die Ehrung linker Persönlichkeiten ist fest im politischen Leben Italiens verankert, erst kürzlich gab es über Lucio Magri (1932-2011, PCI-Mitglied, dann Mitbegründer von Il Manifesto und Rifondazione Comunista) ein feierliches Symposium im italienischen Parlament. Bei einigen bereits veröffentlichten Beiträgen über Ingrao merkt man, dass es fast unmöglich ist, dessen facettenreiches Leben unter eine einzige Überschrift zu zwingen, denn Ingrao war mehr als nur Politiker oder führender Theoretiker des Euromarxismus.

Ingraos Anfänge waren schöngeistig, obwohl er aus einer politischen Familie kam, schon sein Großvater kämpfte für Garibaldi. Als er 1933 das Studium der Rechtswissenschaft, Literatur und Philosophie in Rom beginnt, entdeckt er gleichzeitig die Begeisterung für die Literatur, neben der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts mochte er vor allem die Modernen, besonders Joyce, Kafka und Proust. Eine weitere Leidenschaft war der Film, hier begegnete er Rudolf Arnheim (1904-2007), dem jüdischstämmigen deutsch-amerikanischen Filmtheoretiker, der 1933 ans Internationale Institut für Filmkunst nach Rom ins Exil gekommen war. Ingrao bewegte sich zumeist unter antifaschistisch gesonnen Kommilitonen, angesichts des Spanischen Bürgerkriegs wird er zum Regime-Gegner, was schließlich in einer Mitgliedschaft in der illegalen kommunistischen Partei mündet.

Mitglieder seiner Gruppe in Rom sind u.a. Giorgio Amendola, Paolo Bufalini, Aldo Natoli und Lucio Lombardo Radice, die später alle als führende Persönlichkeiten des PCI hervorgetreten sind. Ende der 1930er Jahre beginnt er an einem Gymnasium zu unterrichten. Nachdem 1942 seine PCI-Gruppe aufgeflogen war und er von der Polizei gesucht wurde, ging er in den Untergrund. In Mailand arbeitete er an der Organisation der Resistenza und schrieb für die damals ebenfalls illegale Parteizeitung L’Unitá. 1944 kehrte er nach Rom zurück, wo er ebenfalls für Resistenza und L’Unitá arbeitete; beinahe hätte es ihn kurz vor Ende der deutschen Besatzung noch erwischt, er wurde inhaftiert, konnte aber fliehen und sich bis zur Befreiung im Juni 1944 in einem Kloster verstecken. Den Bruch, den die Resistenza und die Niederlage Mussolinis in der italienischen politischen Kultur bewirkt hat, hat er immer wieder betont; anders als manche Theoretiker mochte er keine Kontinuität zwischen christdemokratischer Herrschaft und Faschismus erkennen.[1]

1944 heiratete Ingrao Laura Lombardo Radice, Lucios ältere Schwester, die er an der Universität Rom kennengelernt hatte. Sie war sehr aktiv im illegalen PCI und der Resistenza und hat u.a. den Widerstand der römischen Frauen mitorganisiert. Ingrao und Laura Lomdardo Radice (1913-2003) hatten fünf Kinder, von denen die beiden ältesten Töchter Celeste und Chiara politisch auf der Linken aktiv sind. Laura Lombardo Radice blieb Zeit ihres Lebens berufstätig und politisch aktiv, sowohl in der PCI-Frauensektion als auch in anderen frauenpolitischen Zusammenhängen.[2]

PCI-Chef Palmiro Togliatti, der bereits im März 1944 aus Moskau nach Rom zurückgekehrt war, schätzte Ingraos Journalismus und förderte ihn. 1947 wurde er Chefredakteur der Parteizeitung, was er bis 1957 blieb. In dieser Funktion hatte er großen Einfluss auf die linken Debatten und Inhalte. Ein gern benutztes Gramsci-Zitat war, »Die Wahrheit ist revolutionär«, mit dem er sich gegen die sich in schwierigen Situationen gern in Propagandafloskeln flüchtenden Genossen wandte. Togliattis Strategie der democrazia progressiva, die eine allmähliche Demokratisierung des Landes und einen parlamentarischen Weg zur Macht vorsah, damit Gramscis Hegemoniekonzept adaptierte und den PCI von der Kaderpartei zur Massenpartei neuen Typs umformte, brauchte eine attraktive Zeitung, die deren Leser an die Partei band. Das war auch Ingraos Ziel, der relativ wenig von langatmigen Artikeln, die die Parteilinie wiedergeben, hielt. Er zog eine Zeitung vor, die sich eher auf den Alltag der Leser und Leserinnen sowie auf Arbeiterbewegung und Kultur bezog. Dafür wurde Ingrao besonders vom rechten moskautreuen Flügel gern kritisiert. Ingrao wäre mit Neuerungen noch weiter gegangen, er hätte den PCI gern demokratisiert und hielt nicht viel vom demokratischen Zentralismus, aber das ging Togliatti dann doch zu weit. Die 1950er Jahre waren schließlich eine Zeit, in der die Partei extrem unter Druck stand; je mehr Stimmen sie bei den Wahlen einfuhr, desto stärker versuchte die christdemokratische Staatsführung, sie ins politische und gesellschaftliche Abseits zu drängen. Togliatti war aufgrund der im Exil gemachten Erfahrungen bestrebt, das sowjetische Beispiel nicht zu kopieren; in ihrer Autobiografie schreibt Rossana Rossanda, die ähnlich wie Bruno Trentin (1926-2007) auf dem linken Flügel der Partei stand, dass Togliatti eher eine Perspektive darin sah, im von Gramsci inspirierten Stellungskrieg Italien hin zu mehr Freiheit und Gleichheit zu reformieren, als die Errichtung eines sowjetkommunistischen Staates voranzutreiben.

Mit Togliattis zentristischer Position konnte Ingrao gut leben; nachdem dieser 1964 gestorben war, folgte er ihm in das Amt des PCI-Fraktionsvorsitzenden nach. Togliattis Nachfolger im Amt des Generalsekretärs wurde erst Luigi Longo (1900-1980) und dann Enrico Berlinguer (1922-1984), mit denen Ingrao einige Differenzen hatte, besonders was neue soziale Bewegungen und die Bedeutung linker Politik betraf. Ab 1968 waren Jugend- und Studentenbewegung sowie unabhängige Basisgewerkschaften ein neuer Faktor geworden, die PCI-Führung grenzte sich ab und warf die Manifesto-Gruppe um Rossana Rossanda, die den Dialog mit den neuen Bewegungen suchte, aus der Partei. Dass Ingrao, der eigentlich auch für Dialog war, für den Ausschluss seiner Mitkämpferin stimmte, hat sie ihm lange nicht verziehen. Innerparteilich war damit die Position des linken Flügels, obwohl es offiziell im PCI keine Flügel und Fraktionen gab, nach Ausschluss der Manifesto-Gruppe geschwächt. Die Persönlichkeit Ingraos blieb aber weiter der linke Leuchtturm in der Partei, der Generationen von jungen Leuten prägte. Die Mehrheit der Linken, die sich heute in der Partito Democratico oder bei der Sinistra Ecologia Libertà tummeln, hat eine »ingraoistische« Vergangenheit.

Berlinguers historischen Kompromiss lehnte Ingrao ab, bekam aber als prominentester Repräsentant der innerparteilichen linken Minderheit viele schöne Ämter. Sein sichtbarstes Amt hatte er von 1976-1979 als Präsident des Abgeordnetenhauses inne, was ihn zur politischen Zurückhaltung zwang. Ingrao war bei der Basis sehr beliebt, denn er war ein ausgesprochen kämpferischer Redner, der auf Kundgebungen begeistern konnte. Aber Berlinguer war mindestens ebenso beliebt und erzielte beeindruckende Wahlergebnisse, die bei ca. 30% lagen.

So verlegte sich Ingrao verstärkt auf die Theoriearbeit. In Masse e potere (deutsche Ausgabe siehe Anm. 1) versucht Ingrao einen theoretischen Anschluss an die neuen Bewegungen zu finden und plädiert für eine Demokratisierung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Zudem machte er sich als Theoretiker des Sozialismus des Dritten Weges einen Namen; in Crisi e terza via (1978) zeigt er sich als versiert in den linken Theorieentwürfen der Nachbarländer. Die europäische Perspektive bringt auch sein Beitrag in dem Sammelband Perspektiven der Eurolinken.[3] Hier diagnostiziert er die kommenden Probleme der Linken ziemlich exakt. Es sei nicht länger sinnvoll, sich auf herkömmliche Politikmodelle zu verlassen, denn das, was man heute Globalisierung nennt, würde die alten Formen des Wirtschaftens und damit auch ihre Repräsentation früher oder später obsolet machen. Die Arbeiterbewegung würde zudem der gewachsenen Pluralität von Gesellschaft und Bewegungen nicht mehr gerecht und hätte einen Drang zu autoritären Gesellschaftsmodellen. Zudem bringe die wachsende Staatsverschuldung hergebrachte Muster der Wirtschaftspolitik in
Misskredit, womit dem Neoliberalismus Vorschub geleistet würde. Sogar eine veränderte Rolle des Finanzkapitals und die Möglichkeit einer krisenhaften Entwicklung Osteuropas konstatiert er.

Als dann die Mauer fiel, waren trotzdem alle überrascht. Besonders der eurokommunistische PCI, der immer durch seine Moskauferne auffiel, fühlte sich davon betroffen, weshalb ziemlich bald viele danach riefen, die Partei aufzulösen. Ingrao, obwohl er der Meinung war, dass der PCI extrem reformbedürftig sei, gehörte zu den Wortführern derjenigen, die sich gegen die Umbenennung bzw. Auflösung wandten, womit sie nicht erfolgreich waren. Anders als seine Mitstreiter, die Rifondazione
Comunista gründeten, blieb er bis 1993 in der Partei. Nach seinem Austritt stand er Rifondazione nahe. Durch diesen Schritt war er nun in derselben Gruppierung gelandet wie die alten Mitstreiter der Manifesto-Gruppe und viele andere, die vom PCI entweder rausgeschmissen wurden oder der Partei frustriert den Rücken gekehrt hatten. So ergaben sich zahlreiche Wiederannäherungen, u.a. an Rossana Rossanda, mit der er 1995 die Schrift Verabredung zum Jahrhundertende[4] verfasste, in der die Niederlagen analysiert, aber auch theoretische Leitlinien einer posttotalitären Linken skizziert wurden.

Mit der Publikation von Gedichtbänden und Essays übers Kino kehrte Ingrao in den späten Jahren zu seinen Anfängen zurück. Auch seine Autobiografie von 2006, »Volveva la Luna« (Ich wollte den Mond), betont die schöngeistigen Aspekte, die in seinem Leben immer eine große Rolle gespielt haben. Daneben blieb er aber politisch und publizistisch aktiv, unterstützte, solange es gesundheitlich ging, durch Anwesenheit, Artikel oder Redebeiträge Demonstrationen und Initiativen für soziale Gerechtigkeit oder den Frieden. Seit 2014 hat er eine Homepage, die es ihm ermöglicht, trotz körperlicher Schwäche, mit der Welt verbunden zu bleiben. In dem Film Non mi avete convinto,[5] der Ingraos Leben nachzeichnet, erscheint er in all den zahlreichen Rollen, die er in 80 Jahren des politischen Engagements ausgefüllt hat: als junger Enthusiast und Kämpfer, als Parteipolitiker und Funktionär, als intellektueller Theoretiker und am Ende auch als fragiler Schöngeist.

Christina Ujma, Berlin, schreibt in Sozialismus regelmäßig über Italien. Dieser Beitrag erschien in der Printausgabe 4-2015 von Sozialismus.

[1] Vgl. Pietro Ingrao, Massenbewegung und politische Macht, VSA: Verlag, Hamburg 1979, S. 10f.
[2] Vgl. Chiara Ingrao, Soltanto una vita, Baldini Castoldi Dalai, Milano 2005.
[3] Detlev Albers/Pietro Ingrao u.a. (Hrsg.): Perspektiven der Eurolinken, Campus Verlag, Frankfurt/M. 1981, S. 17-39.
[4] Erschien mit zusätzlichen Beiträgen deutschsprachiger AutorInnen mit dem Untertitel »Eine Debatte über die Entwicklung des Kapitalismus und die Aufgaben der Linken« 1996 im VSA: Verlag Hamburg.
[5] 2012; Regie: Filippo Vendemmiati.

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