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Nimrud
Menschen kommen und gehen. Das klingt vielleicht hart, ist aber so. Das Wissen um unsere Endlichkeit, unabhängig von jeglicher Idee, was vielleicht nach dem Tod kommen oder spirituell bleiben mag, treibt uns. Es spornt uns an, Taten zu vollbringen, Projekte zu realisieren, kurz: unser Leben zu leben. Was von uns bleibt ist unser Erbe. Wird diesem eine überindividuelle Relevanz zugesprochen, dann heißt es kulturell. Das kulturelle Erbe. Die manifeste Brücke einer immer fremden Vergangenheit über uns hinweg oder durch uns hindurch in eine unbekannte Zukunft. Kulturelles Erbe zu zerstören heißt Leben zu zerstören.
Carsten kommt in den Gruppenarbeitsraum gestürmt, in dem Hanna, Charlotte und Ben zusammensitzen und über ihre letzten Seminare, zukünftigen Ausgrabungen und den nächsten gemeinsamen Museumsbesuch reden. Carstens Augen sind weit aufgerissen. Er atmet schwer, stockt, als er die anderen erreicht hat und hält sich an einer Stuhllehne fest. Die verstummen, schauen zu ihm hoch, irritiert, ängstlich werdend, ahnend. Carsten möchte sprechen, doch seine Stimme versagt. Er braucht drei Anläufe bis er kratzend hervorbringt: „Der IS hat Nimrud dem Erdboden gleichgemacht!“
Alle starren ihn an. Charlottes Augen weiten sich. Hanna macht den Mund auf, spricht aber nicht. „Was“, keucht Ben aber es ist keine Frage.
„Der IS hat … “, Carsten hat nun sichtlich Mühe die Beherrschung nicht zu verlieren.
„Nimurd!“ ruft er dann und es klingt, als sage er „Eden“ und „Babel“ in einem Wort: „Sie haben Nimrud platt gemacht. Platt, weggemacht. Ausradiert!“
Hanna räuspert sich: „Du meinst, sie haben es geplündert.“ Und obwohl es das Schrecklichste ist, was sie sagen kann, schwingt ein leiser Unterton der Hoffnung mit in ihrer Stimme.
„Nein!“, Carsten schreit nun fast: „Sie haben es platt gemacht! Dem Erdboden gleich! Vernichtet! Weg! Sie sind mit schwerem Gerät dorthin, mit Bulldozern, Baggern, Panzern und haben es eingerissen, plattgefahren, zerstört, vollständig niedergemäht.“
Hannas Arme sind vom Tisch gerutscht, während Carsten gesprochen hat. Ben hat sich eine Hand vor den Mund geschlagen. Er presst sie sehr stark davor, so, als müsse er etwas zurückhalten, was sonst daraus hervorbrechen würde. Charlotte gleitet ein Stift aus den Fingern und fällt klappernd zu Boden. Es ist das einzige Geräusch nachdem Carsten verstummt ist. Keiner sagt etwas. Alle schauen sich an ohne sich zu sehen oder zu bewegen.
Plötzlich krallt Charlotte ihre nun leeren Hände in die Tischkante und zieht sich daran hoch, bis sie ganz gerade sitzt, gedehnt, wie eine gespannte Bogensehne: „Vielleicht stimmt es nicht. Vielleicht sind das Propagandameldungen! Bist du sicher, Carsten? Woher kommt das denn? Vielleicht … vielleicht nur ein Ablenkungsmanöver!“
„Nein, nein, nein!“, Carstens Stimme wird mit jedem Wort lauter, er schüttelt energisch den Kopf: „Der Martin von den Museen hat es bestätigt. Und der Bernbeck vom Institut. Der Hilgert auch. Alle, die Kontakt zu den Kollegen in Bagdad haben, die haben es alle bestätigt.“ Carsten bricht ab. Dann lässt auch er sich endlich auf einen Stuhl sinken, erschöpft und fahrig. Die vier sitzen nun schweigend um den Tisch.
„Aber … Wie kann denn das sein“, sagt Ben dann. Seine Hand ist von seinem Mund gesunken, hängt regungslos in der Luft. Seine Augen zucken schnell über die Tischplatte, als würde er dort eine Steno lesen, die nur er sehen kann: „Das kann doch nicht sein. Das muss man doch … das kann doch nicht wahr sein! Die Weltgemeinschaft … man muss doch etwas dagegen unternehmen!“ Sein Blick richtet sich nun in schneller Folge abwechselnd auf die anderen. Tränen steigen in seine Augen. Charlottes presst die Lippen aufeinander und ihre Finger krallen sich so fest in die Tischkante, dass man ihre Nägel knirschen hören kann.
Hanna flüstert nun: „Wisst ihr noch damals, als die Buddhastatuen in Afghanistan gesprengt wurden? Ich dachte immer, schlimmer kann es nicht mehr werden. Ich dachte, schlimmer wird es nicht mehr. Ich dachte, dass machen die jetzt einmal und dann ist das für alle klar, dass das nicht geht, dass so etwas nicht geht, nicht sein darf.“ Sie spricht ganz leise und schaut dabei nur die Blätter an, die vor ihr liegen. Eine Planskizze des Grabungsschnitts, den sie in der letzten Kampagne betreut hat. In Griechenland vielleicht oder in der Türkei, Italien, irgendwo auf der Welt, wo es sicher ist. Es spielte keine Rolle mehr. Nimrud erscheint plötzlich überall.
Dann redet Carsten wieder. Auch er spricht leise aber stetig, er ist nicht zu stoppen.
„Sie haben die Presslufthämmer in die Wächterstatuen getrieben. In ihre Gesichter, in die Brust, den Löwen in die Flanken, in die Beine und Bäuche. Immer wieder, bis sie krachend in sich zusammengebrochen sind. Dann ihnen den Kopf abgeschlagen. Mit Vorschlaghämmern haben sie die Einzelteile zertrümmert. Augen, Mähnen, Tatzen – nichts ist mehr erkennbar, nur noch Geröll und Staub. Mit Baggern haben sie die Lehmmauern eingerissen, sogar die Rekonstruktionen. Die Schaufeln haben sich in die 3000 Jahre alten Ziegel gehackt wie in Butter. Planierraupen haben dann alles niedergewalzt. Nur noch ein Brei aus zertretener Erde … “
„Halts Maul“, schreit Ben da, „du Arsch, halt dein verdammtes Maul, niemand will den Scheiß hören!“ Er springt auf, sein Stuhl kreischt über den Steinboden. Er stiert auf Carsten, sein rechtes Augenlid flattert und dann laufen ihm die Tränen ungeniert über die Wangen, Tränen der Wut, des Schmerzes, der Hilflosigkeit, ja, vor allem der lähmenden Hilflosigkeit, und er schreit weiter auf Carsten ein, der immer noch leise und wie in Trance vor sich hinspricht und erst als Ben es bestimmt sieben, acht, zehn Mal geschrien hat: „Halts Maul, du Arsch, halt endlich dein verdammtes Maul!“, da verstummt er und sieht den anderen mit großen Augen an.
„Mir ist schlecht“, ruft Hanna unterdrückt, presst sich die Hand vor den Mund, springt auf und rennt hinaus. Charlotte sitzt immer noch kerzengerade ganz vorne am Rand ihres Stuhls und hält sich am Tisch fest. Ganz langsam, wie in Zeitlupe schüttelt sie den Kopf, so, als würden in eben dieser Geschwindigkeit Bilder in ihrem Gehirn explodieren, ihre Synapsen verkleben und dadurch alles in ihre verlangsamen. „Das kann nicht sein“, flüstert sie nun. Und als wäre dies ein inneres Zeichen werden nun auch ihre Augen feucht. Doch sie weint nicht, sitzt immer noch, beherrscht, und presst nach ihrem Flüstern wieder die Lippen aufeinander.
Nimrud wurde im 13. Jahrhundert v. Chr. gegründet. Im 9. Jahrhundert v. Chr. war es die Hauptstadt des Assyrsischen Reiches und als solche eine multikulturelle Metropole. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts n. Chr. fanden dort archäologische Forschungen statt. Bekannt geworden sind dabei vor allem die monumentalen Architekturplastiken, zum Beispiel die sogenannten Türhüter- oder Wächterfiguren.
Carsten, Hanna, Charlotte und Ben haben gemeinsam in Berlin studiert.
Als Nimrud zerstört wurde hatte Carsten gerade sein Masterstudium in Geschichte und Kulturen Altvorderasiens mit dem Schwerpunkt Archäologie an der Freien Universität beendet und mit der Promotion begonnen. Im Frühjahr und Herbst schaffte er es oft, auf Projekte mitgenommen zu werden. Im Sommer und Winter arbeitete er bei Kaisers an der Kasse. Nach dem Abschluss seiner Promotion mit summa cum laude, der besten Note mit Auszeichnung, hangelte er sich eine Weile von Projektstelle zu Projektstelle, hatte hier und da einen Lehrauftrag und versuchte dann für seine Habilitation ein größeres Projekt bei der Deutschen Forschungsgesellschaft zu beantragen. In diesen Antrag investierte er acht Monate Vorbereitung. Währenddessen fuhr er zu keinem Projekt ins Ausland, arbeitete nicht und lebte von Erspartem. Sein Antrag wurde abgelehnt. Daraufhin bewarb er sich für die Archivschule in Marburg und bekam nach erfolgreichem Abschluss als promovierter Archivar mit umfassenden Kenntnissen in acht lebenden und fünf toten Sprachen und bis dahin schon 7 Jahren Berufserfahrung eine Stelle im öffentlichen Dienst mit TVöD 9.
Hanna beendete ein Jahr nach der Zerstörung von Nimrud ihren Master in Prähistorische Archäologie und kam dann mit einem Stipendium bei einem Graduiertenkolleg unter, wo sie ihre Doktorarbeit begann. Da sie nach Ablauf des Stipendiums keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hatte fiel sie direkt in Hartz IV und schaffte es, eineinhalb Jahre davon zu leben. In dieser Zeit schrieb sie dreiundachtzig Bewerbungen auf befristete Teilzeitstellen und Elternzeitvertretungen in Deutschland, Österreich, der Schweiz, England, den Niederlanden, Belgien und zwei in die USA, erarbeitet dreiundzwanzig spezifizierte Exposés für ein- bis zweijährige Forschungsprojekte und Fellowships und platzierte elf Beiträge für Fachzeitschriften und Tagungsbände. Einmal gelang es ihr eine Gutachtertätigkeit zu bekommen, wofür sie eine Aufwandsentschädigung von 500€ erhielt, die ihr anteilig von ihrem Hartz-Satz abgezogen wurde. Ihre Doktorarbeit blieb unvollendet. Als das Drängen vom Amt auf eine Umschulung immer lauter wurde heiratete sie einen Mann, bekam zwei Kinder und wurde Hausfrau und Mutter in Vollzeit.
Charlotte hatte in Mainz den Bachelor abgeschlossen und zum Zeitpunkt der Zerstörung von Nimrud gerade ihr ersten Mastersemester in Archäologie und Kulturgeschichte Nordostafrikas beendet. Noch zum folgenden Sommersemester brach sie dieses Studium ab und begann völlig neu mit BWL. Später war sie die Einzige der vier, die eine feste Stelle mit geregeltem Einkommen hatte, von dem sie eine Familie ernähren konnte, die sie jedoch erst nach langem Zögern gründete.
Ben, der jüngste von ihnen, beendete bald nach der Zerstörung von Nimrud seinen Bachelor in Altertumswissenschaften mit dem Profilbereich Vorderasiatische Archäologie und schloss einen Master in London an. Er promovierte in Cambridge. Anschließend arbeitete er in Südengland an einem Eliteinternat als Lehrer für Deutsch, Altgriechisch und Geschichte und versuchte gleichzeitig, in der Wissenschaft Fuß zu fassen. Seine Bewerbungen, Anträge und Projektskizzen schrieb er an Wochenenden und in den Schulferien. Nach einigen Jahren kehrte er nach Deutschland zurück, wo er vor allem aufgrund seines Auslandsaufenthaltes eine der seltenen und begehrte Post-Doc-Stellen in einem Forschungsverbund bekam. Dort erhielt er allerdings auch nur ein Stipendium, welches für ihn als deutschen Staatsbürger nur die Hälfte dessen betrug, was seine Kollegin aus Frankreich und der Kollege aus Amerika bekamen, nämlich ohne Kinder knapp 1.600€ im Monat.
Wohl keiner von den Vieren hat eine Professur bekommen. Das schafft statistisch gesehen nur einer von einhundert Hochschulabsolventen und in den Geisteswissenschaften ist der Schnitt noch schlechter. Ben mag nach dem erfolgreichen Abschluss seiner Habilitation vielleicht zu sechs bis sieben Berufungsverfahren eingeladen worden sein. Dann wurde er mit Mitte fünfzig zu alt und blieb der ewige Nachwuchswissenschaftler.
Nimrud wird nicht wieder auferstehen. Asche gebiert nur Phönixe und diese sind Fabelwesen, so wie jene geflügelten Wächterfiguren aus Stein es waren, die nun nicht mehr existieren. Nur ein reflektiertes Bewusstsein für die Vergangenheit ist in der Lage nach vorne gerichtete Perspektive zu entwickeln. Zerstören wir unsere kulturellen Hinterlassenschaften, so zerstören wir unsere Zukunft. Nimrud ist schon tot, ebenso Mossul und Al Hadra. Aber das sind nur die Stätten, die es bis in die westlichen Medien geschafft haben. Und so wird es weitergehen auch ohne Carsten, Hanna, Charlotte und Ben.