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Wunderpflanze Stevia: Süß, natürlich, kaum Kalorien

Foto: NORBERTO DUARTE/ AFP

Süßstoff Stevia Lebensmittelriesen starten die Zucker-Revolution

Eine gigantische PR-Maschinerie läuft an: Die großen Lebensmittelkonzerne verdienen immer weniger mit klassischen Süßstoffen, nun kreieren sie einen neuen Absatzmarkt. Das Wundermittel heißt Stevia, ein indianischer Zuckerersatz ohne Kalorien - die Branche hofft auf ein Milliardengeschäft.
Von Dirk Müller

Frankfurt am Main - Haben Sie schon einmal von Stevia gehört? Vermutlich nicht, denn das Thema hat in Medien und Finanzwelt bislang kaum Aufmerksamkeit gefunden. Doch das dürfte sich in den kommenden Monaten ändern. Schließlich geht es um nicht weniger als eine Revolution in der Lebensmittelindustrie.

Bei Stevia handelt es sich um einen Süßstoff, der es in sich hat. Seit Jahrhunderten nutzen die Indianer im Grenzland zwischen Brasilien und Paraguay eine Pflanze namens "stevia rebaudiana", auch Honigkraut genannt, als Süßungsmittel. Die Blätter werden im Vergleich zu Rohrzucker als 30-mal süßer empfunden, das extrahierte, reine Steviosid ist rund 300-mal süßer. Ein weiterer in der Pflanze entdeckter Stoff ist Rebaudiosid A, er soll sogar noch süßer sein.

Der besondere Reiz dieser Süße liegt darin, dass der Mensch sie zwar schmeckt, der Körper sie aber kaum verarbeitet. Mit anderen Worten: Stevia ist ein fast kalorienfreier Süßstoff.

Das bieten zwar auch andere Süßstoffe wie Aspartam, aber weil sie künstlich hergestellt sind, werden sie von vielen Menschen instinktiv abgelehnt. Oder sie sind, wie Cyclamat, in einigen Ländern wegen ihrer gesundheitlichen Folgen verboten. Aber ein natürlicher, nahezu kalorienfreier Süßstoff, den schon die Indianer nutzten, wäre etwas anderes. Naschen ohne schlechtes Gewissen - was für eine phantastische Zukunft!

Im Westen wurde die Pflanze verboten, in Asien ist sie allgegenwärtig

Doch mal wieder ist die Welt der Wirtschaftsinteressen schlechter, als man wahrhaben will. Wenn Sie sich wundern, warum stevia rebaudiana nicht schon längst bei uns eingesetzt wird, stellen Sie sich einfach die Frage: Wem nutzt es, wem schadet es?

Nutzen würde der Einsatz der Pflanze dem Verbraucher. Schaden würde er der mächtigen Zuckerindustrie und der chemischen Lebensmittelindustrie, den Giganten, die Milliarden mit der Produktion von Aspartam und Co. umsetzen. Einer der Marktführer, NutraSweet, gehörte bis zum Jahr 2000 dem Gentech-Konzern Monsanto  .

In den frühen achtziger Jahren, als das Thema Stevia in den USA aufkam, beendete eine Studie der University of Illinois in Chicago die Diskussion schnell wieder. Experimente an Ratten ergaben, dass ein Abbauprodukt von Steviosid potentiell krebserregend wirkt. Bezeichnenderweise hat die chemische Süßstoffindustrie an dieser Studie mitgewirkt.

Stevia war somit im Westen kein Thema mehr, von den Behörden wurde die Verarbeitung der Pflanze in Lebensmitteln nicht zugelassen. Anders ist das in Asien. In Japan etwa ist die Stevia-Pflanze seit den siebziger Jahren im Alltagseinsatz und bestimmt dort 40 Prozent des Süßstoffmarkts, ohne dass die japanischen Verbraucher in Massen vom Krebs dahingerafft werden.

Mit klassischen Süßstoffen lässt sich kaum noch Geld verdienen

Doch jetzt kommt eine neue Entwicklung dazu: Denn die Patente für viele künstliche Süßstoffe sind mittlerweile ausgelaufen, für Aspartam schon 1992, für Sucralose 2005. Außerdem wird der Markt von riesigen Mengen an Billigprodukten aus China überschwemmt. Die großen Player können nun nur noch wenig verdienen, das Interesse an Aspartam und Co. schwindet. Wie durch ein Wunder wird Stevia auf einmal wieder interessant für sie.

Aber wie soll man als Lebensmittelgigant von Stevia profitieren? Auf eine seit Jahrhunderten bekannte Pflanze kann man schließlich kein Patent anmelden: Jeder darf sie anbauen und vermarkten.

Also kam man auf eine geniale Idee: Man gewinnt einen der Stevia-Süßstoffe, Rebaudiosid A, auf chemischem Weg und meldet auf diese Methode sowie auf die chemisch behandelten Substanzen eine Reihe von Patenten an. Die reine Pflanze bleibt als Lebensmittel verboten, der chemisch gewonnene Bestandteil hingegen wird zugelassen - und man kann Millionen mit den neuen patentierten Süßstoffen verdienen. Perfide, aber real.

Die USA starten eine große Kampagne gegen Zucker

Im Jahr 2007 meldete Coca-Cola   24 Patente auf Stevia-Produkte an. Coca-Colas Partner und Mitentwickler ist der Agrar- und Lebensmittelgigant Cargill, das größte Familienunternehmen der USA mit 116 Milliarden Dollar Umsatz im vergangenen Jahr.

Also alles bereit für den großen Angriff von Stevia auf Zucker, Aspartam und Co.? Fast. Es fehlten nur noch folgende Punkte:

  • Der Geschmack muss möglichst nahe an Zucker herankommen. Tatsächlich hat es Cargill nach eigenen Angaben geschafft, den leichten Nachgeschmack nach Lakritz, der Stevia-Produkten eigen ist, zu minimieren.
  • Man muss den Menschen einreden, dass der chemisch gewonnene Süßstoff "natürlich" ist. Sie wissen schon: "Alte Indianerpflanze" und so... Alles eine Frage des Marketings.
  • Die neuen Süßstoffe müssen im Westen zugelassen werden. In den USA ist die generelle Unbedenklichkeit von Rebaudiosid-A in Süßungsmitteln als Lebensmittelergänzungsstoff durch die Food and Drug Administration im Dezember 2008 erklärt worden. Frankreich hat im September 2009 eine vorläufige Zulassung erteilt. In den kommenden Wochen soll auch in der EU über die Zulassung entschieden werden.
  • Es muss genug Stevia angebaut werden. Cargill hat deshalb weltweit, vor allem in China, Vertragsbauern angeheuert und beginnt mit der massenhaften Züchtung von Samen.

Mittlerweile ist die Cargill-Marke Truvia Marktführer und beherrscht sechs Prozent des amerikanischen Süßstoffmarkts. Coca-Cola verwendet Stevia-Süßstoff in den USA bereits in "Sprite Green"-Limonaden. Auch PepsiCo   ist in die Produktion von Stevia-Produkten eingestiegen.

Praktischerweise kommt nun noch die Politik den Unternehmen zu Hilfe. Wie durch Zufall startet die US-Regierung in diesen Wochen eine große Kampagne gegen Fettleibigkeit und übermäßigen Zuckerkonsum.

Washingtons Kampf richtet sich ganz besonders gegen zuckerhaltige Limonaden. So will Präsident Barack Obama eine "Soda-Steuer" einführen, eine Sondersteuer auf zuckerhaltige Limonaden. Diese Idee kam Ende 2009 auf und wird jetzt für den Kongress vorbereitet. Das Ganze wird unterstützt durch diverse wissenschaftliche Studien und eine landesweite Kampagne für gesunde und zuckerarme Ernährung.

In den kommenden zwei bis drei Jahren wird so ein neuer Multimilliarden-Markt entstehen - und kaum jemand nimmt bislang davon Notiz. Für die Konzerne kann die Party beginnen.